Drehen Sie sich zehn Mal schnell im Kreis und versuchen Sie, gleich nach dem Anhalten einen zehnzeiligen Zeitungsartikel zu lesen. Und nicht nur das: Die verschwommene Buchstabenmenge sollten Sie auch gleich sinnerfassend verstehen. Das Gefühl der Machtlosigkeit, das dabei aufkommt, befällt etwa zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler beim Lesen eines Textes…
Seit Menschen mit Buchstaben zu tun haben, gibt es auch das Phänomen Legasthenie. Diese spezielle Lese-Rechtschreib-Problematik kann in jeder Familie auftreten – unabhängig von Herkunft oder Bildungsgrad der Eltern. Berühmte Schriftsteller wie Ernest Hemingway oder Agatha Christie, Genies wie Albert Einstein, Charles Darwin und Leonardo da Vinci waren alle Legastheniker. Sogar Präsident der USA zu werden, ist für Betroffene kein Ding der Unmöglichkeit, wie John F. Kennedy, Dwight D. Eisenhower und Franklin D. Roosevelt bewiesen haben. Legasthenie ist anlagebedingt, lässt sich also nicht – wie oft fälschlicherweise behauptet wird – erwerben oder verhindern.
Dennoch bereitet es Eltern verständlicherweise Sorgen, wenn ihr Kind nicht so leicht lesen und schreiben lernt wie andere. Doch nicht jedes dieser Kinder ist tatsächlich legasthen. Manche sind Spätzünder oder etwa aus gesundheitlichen oder seelischen Gründen nicht in der Lage, aufmerksam zu lernen.
WIE LEGASTHENIE ERKENNEN?
Ein legasthenes Kind ist zumindest durchschnittlich intelligent und normal entwickelt, hat aber Schwierigkeiten im Umgang mit Buchstaben und/oder Zahlen. Viele Eltern geben nicht gerne zu, dass ihr Kind oder auch sie selbst Lese- und Schreibprobleme haben. Allzu oft werden Legasthenie oder Dyskalkulie (spezielle Rechenschwäche) noch als Störung, Krankheit oder gar Behinderung dargestellt. Zu Unrecht: Denn legasthene und dyskalkule Menschen haben eine spezielle Informationsverarbeitung, sie können etwa akustisch Wahrgenommenes nicht oder nur schlecht wiedergeben. Probleme bereitet oftmals auch die Unterscheidung ähnlich geschriebener oder gesprochener Wörter. Zudem werden Buchstaben- und Zahlenfolgen durcheinandergebracht oder einzelne Buchstaben beim Lesen oder Schreiben ausgelassen. Am bekanntesten ist das Phänomen des Verdrehens von Buchstaben oder Zahlen.
Beobachten Eltern eines oder mehrere Anzeichen bei ihrem Schulkind, dann sollten sie Rücksprache mit der Klassenlehrerin halten. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, einen Legastheniespezialisten aufzusuchen. Anhand eines mehrstufigen Testverfahrens, das aus einem Aufmerksamkeits-, einem Wahrnehmungs-, einem Lese- und einem Schreibtest (bzw. Rechentest) bestehen sollte, kann festgestellt werden, ob das Kind legasthen (bzw. dyskalkul) ist und in welchen Bereichen es am meisten betroffen ist. Bei entsprechender Diagnose erhält das Kind ein pädagogisches Attest, das in der Schule zur besonderen Berücksichtigung abgegeben wird. Zudem wird ein individueller Trainingsplan für das Kind erstellt.
Da sich Legasthenie erst im Zusammenhang mit dem Lesen und Schreiben äußert, sollte man eine Austestung frühestens vornehmen, nachdem das Kind alle Buchstaben gelernt hat, also etwa am Ende der ersten Klasse Volksschule. Jedes Kind hat seine „eigene Legasthenie oder Dyskalkulie“, wobei die verschiedenen Wahrnehmungsbereiche unterschiedlich ausgeprägt sind. Daher führt auch nur ein auf die individuellen Bedürfnisse des betroffenen Kindes angepasstes Einzeltraining langfristig zum Ziel.
WIE LEGASTHENIE ÜBUNGEN INS ALLTAGSTRAINING EINBAUEN?
Eltern können mit ihrem Kind spielerisch im Alltag Wahrnehmungsübungen durchführen, bei denen es gar nicht bemerkt, dass „gearbeitet“ wird.
- So zeichnet man dem Kind einfache Striche oder Muster auf, die es nachzeichnen soll.
- Beim gemeinsamen Familientisch lässt man es verschiedene Speisen, im Auto vorbeifahrende Fahrzeuge in einer bestimmten Farbe oder Passanten mit einem speziellen Merkmal zählen.
- In der Tageszeitung oder einer Illustrierten kann das Kind bestimmte Buchstaben und Zahlen suchen, markieren oder Wörter ausschneiden.
- Mit Memorykärtchen lässt sich das Gedächtnis ebenfalls schulen, wenngleich nicht mit den herkömmlichen Spielregeln: Dafür legt man einen einfachen Kartensatz mit dem Bild nach oben auf, das Kind muss sich die Kärtchen merken; diese werden anschließend gewendet, und nun gilt es, mit den Pärchen dieser Karten aus dem Gedächtnis die verdeckte Reihenfolge aufzulegen. Steigert man die Anzahl der Kärtchen nach und nach, ist diese einfache übung ein geniales Aufmerksamkeits- und Gedächtnistraining.
- Gleiches gilt für das beliebte „Ich packe meinen Koffer“-Spiel.
- Wichtig ist es auch, dem Kind viel vorzulesen und es nacherzählen zu lassen, auch wenn das mitunter schwerfällt.
- Ein weiteres beliebtes Spiel: verschiedene kleine Figuren oder Gegenstände unter einem Tuch verstecken und das Kind diese erfühlen und erkennen lassen.
WIE WICHTIG IST LOBEN?
Ein legasthenes Kind braucht viel Lob und Anerkennung, denn es muss sich tatsächlich mehr plagen als andere und leistet dabei Großartiges. Eltern sollten ihrem legasthenen Kind stets vermitteln, dass sie es so mögen, wie es ist, und dass sie ganz fest daran glauben, dass das Kind es schaffen wird. Eines der wichtigsten Förderziele besteht wohl darin, dass ein legasthenes Kind den Mut nicht verliert und nie vergisst: Es gibt ein Leben neben richtig geschriebenen und gelesenen Wörtern! „Und dieses Leben ist auch schön“, wie Lisa, ein Trainingskind, neulich plötzlich mitten in der Stunde sagte und dabei lächelnd zum Fenster hinausblickte …
Autor:in:
Zur Person DI Roswitha Wurm Dipl. Legasthenie-, Dyskalkulie- und Lerntrainerin, Buchautorin und freie Redakteurin, (Sport)mentaltrainerin https://lesenmitkindern.at/ Aktuelle Artikel