Kinder sind heute „stimulationssüchtig“ – ohne entsprechende Anregungen haben sie regelrechte Entzugserscheinungen. Was sind die Gründe dafür? Und wie können Eltern der Bespaßung entgegenwirken?
NEW MOM ist einem typischen Phänomen des 21. Jahrhunderts nachgegangen.
„Mein kleiner Sohn kann nicht einmal fünf Minuten alleine spielen, er braucht ständig einen Erwachsenen zum Bespaßen. Dabei hat er alles: ein eigenes Zimmer, einen Garten, gutes Spielzeug. Aber er quengelt nur!“ Online-Foren sind voll mit solchen und ähnlichen Klagen müder Mutter. Es scheint, als hätten die Kinder die Fähigkeit verloren, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sie hängen am Rockzipfel ihrer Bezugspersonen, binden deren Aufmerksamkeit, fordern zunächst Vorschläge, um sie dann abzulehnen.
WIE IST DIE KINDHEIT 2.0?
Kinder sind heutzutage daran gewöhnt, ständig von außen mit Beschäftigung versorgt zu werden:
- vormittags in der Betreuungsinstitution oder in der Schule führen sie die Ideen der Erwachsenen aus
- am Nachmittag warten Hausaufgaben, Musikinstrument und Sporttraining.
- Freunde haben selten Zeit, einen Termin fürs Treffen verabredet man per Handy.
- Wenn sich ein Zeitfenster ergibt, dann sorgen Fernseher und Computer für schnelle Unterhaltung.
MÜSSEN SICH KINDER AUCH MAL LANGWEILEN?
„Kinder wurden schlichtweg , „stimulationssüchtig“ gemacht. Ohne Anregung oder „Bespielung“ haben sie regelrecht Entzugserscheinungen“, beobachtete schon der dänische Familientherapeut Jesper Juul. Er trat immer dafür ein, dem Kind seine Langeweile zu lassen, auch wenn es sich ein wenig unwohl damit fühlt. Nur so könne es seine innere Balance zwischen Konsum und eigener Kreativität wiederfinden. Jammert ein Kind „Mir ist so fad!“, sollte man gelassen reagieren: „Herzlichen Glückwunsch, mein Freund! Es interessiert mich zu sehen, was du jetzt tust“.
„Kinder sind nicht die Ursache, sondern unser Spiegel“
Rainer Buland, Leiter des Instituts für Spielforschung der Universität Mozarteum Salzburg, sieht vor allem Zeit und Muße als grundlegende Voraussetzungen für kreatives Spiel an. Im Interview mit NEW MOM-Redakteurin Petra Autherid erklärt er, warum wir Erwachsenen gefordert sind, unsere Lebensweise unter die Lupe zu nehmen, wenn Kinder nicht entspannt spielen.
NEW MOM: Haben die Kinder von heute tatsächlich die Fähigkeit verloren, alleine zu spielen?
Rainer Buland: Nein, die Fähigkeit ist sicher nicht verloren gegangen. Wir müssen aber sagen: Spielen ist keine Tätigkeit, die alleine besonders viel Spaß macht. Das Spiel bringt Menschen zusammen, Kinder und Erwachsene. Es stellt ein System von Beziehungen her, deswegen ist es wichtig, die Systemtheorie zu bemühen. Der Blick alleine auf das Kind ist also zu wenig. Wenn wir in Foren von ständig quengelnden und gelangweilten Kindern lesen, dann müssen wir die Erwachsenen in die Betrachtung einbeziehen: Vielleicht sind die Erwachsenen ständig genervt, überfordert und überfordern ihre Kinder.
NEW MOM: Was braucht das kreative Spiel?
Rainer Buland: Gefragt ist die Fähigkeit, sich länger mit einer Sache zu beschäftigen. Wichtig ist dabei, dass die Erwachsenen eine Atmosphäre der Ruhe und Muße herstellen. In einer Umgebung, in der ständig der Fernseher im Hintergrund läuft, die Kinder nur aufs Handy schauen, die Eltern von Termin zu Termin laufen, da werden die Kinder auch keine Muße finden, sich in kreative Spiele hineinzufinden.
NEW MOM: Was ist heute anders?
Rainer Buland: Unsere heutige Lebenswelt ist zum guten Teil verrückt. Die einen müssen in immer kürzerer Zeit immer mehr leisten, die anderen dürfen oder können nichts mehr arbeiten und sind deswegen ebenfalls unglücklich. Diese überdrehte und verrückte Lebenswelt wirkt sich natürlich auch auf die Kinder aus. Sie sind aber nicht die Ursache, sondern unser Spiegel.
WAS HINDERT KINDER AM SPIELEN?
Das bedeutet aber nicht, dass wir Kinder allein lassen sollen. Sie brauchen unsere Geborgenheit, nicht aber unsere Animation.
Spielen ist die natürliche Entwicklungsaufgabe von Kindern! Dennoch gibt es Kinder, die es kaum schaffen, in ein Spiel zu kommen. „Ihr Entwicklungsmotor läuft nur stotternd“, stellt Kinderarzt Herbert Renz-Polster in seinem Buch „Wie Kinder heute wachsen“ fest. Und zwar dann, wenn „sie von klein auf mit ihren Ideen an der Leine der Großen gehen mussten“ oder „sie mit ihren Beziehungen keine guten Erfahrungen gemacht haben“.
Wenn Kinder sich nicht eingebunden fühlen, ihnen wenig zugetraut wird, verarmen sie in ihren Möglichkeiten. Kinder brauchen andere Kinder und immer wieder einmal exklusive Elternzeit. Denn alleine spielen funktioniert nur dann gut, wenn sich das Kind nicht alleine fühlt!
DRAUSSEN SPIELEN?
Über Hunderte von Generationen war die Natur der angestammte Spielplatz von Kindern. Die Erfahrungen von Waldkindergärten bestätigen die heilsame Wirkung des „großen Draußen“. Im Wald sprudeln die Quellen der Inspiration aus allen Ritzen. Sollten Kinder wirklich verlernt haben zu spielen, dann gehören sie genau dorthin … und ihre Eltern vielleicht auch!
Buchtipps:
- WIE KINDER HEUTE WACHSEN: Von Herbert Renz-Polster, Gerald Hüther Beltz Verlag ISBN 978-3-407-85953-2, Euro 18,50
- DIE KINDHEIT IST UNANTASTBAR: Von Herbert Renz-Polster, Beltz Verlag, ISBN 978-3-407-85847-4, Euro 18,50
- MOKASSINKINDER: Von Krissy Pozatek, Beltz Verlag, ISBN 978-3-407-85829-0, Euro 17,50
Autor:in:
Zur Person Mag. Petra Autherid ist ausgebildete Kindergartenpädagogin und studierte Erziehungswissenschaften. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit arbeitet sie in einem Montessori-Kindergarten. Aktuelle Artikel