Keine Pausenglocke, kein Turnbeutel, kein Diktat: Wovon manch Sechs bis 14-Jähriger träumt, ist für viele Kinder in Österreich Realität. Sie werden zu Hause unterrichtet … oder lernen frei. NEW MOM über eine wachsende Gruppe von Schülern, die sich angesichts der erbittert geführten Bildungsdiskussion zunehmend ins Rampenlicht rückt. Anfang September, neun Uhr. Tausende Taferlklassler verlassen mit glühenden Backen jenes Gebäude, das sie in den nächsten vier Jahren nicht wieder freigeben wird: die Volksschule. Währenddessen sitzt die sechsjährige Sophie entspannt im Pyjama zu Hause und lässt sich stolz mit ihrer Schultüte fotografieren. Sophie besucht keine Schule.
Bildungs- statt Schulpflicht?
Sophie ist kein Einzelfall: Im Schuljahr 2010/11 waren rund 2200 schulpflichtige Kinder in Österreich „für den häuslichen Unterricht abgemeldet“, wie es Paragraf 11 des Schulpflichtgesetzes erlaubt.
- Die anno 1774 von Maria Theresia eingeführte Schulpflicht besitzt zwar nach wie vor Gültigkeit – aber eigentlich ist es eine Unterrichtspflicht, und der dürfen Erziehungsberechtigte auch in den eigenen vier Wänden nachkommen. Wer dies will, dem legt der Gesetzgeber wenige Steine in den Weg. Ein formloser und zeitgerecht beim zuständigen Stadt- oder Bezirksschulrat eingebrachter Antrag, ein positiver Bescheid: Nie mehr Schule!
- Nun ja: Einmal jährlich müssen die Homeschooler doch in einer von zahlreichen Prüfungsschulen antreten, um nachzuweisen, dass ihr Wissen dem Lehrplan entspricht. Wie dies abläuft, obliegt der Schule. Oftmals unterhalten sich die Prüfer mit den Schützlingen, sehen ihre Arbeitsunterlagen durch, machen sich ein Bild von ihrem Wissensstand. Ist der Eindruck positiv, steht dem weiteren häuslichen Unterricht nichts im Wege. Bestehen sie nicht – was kaum vorkommt -, müssen sie zumindest ein Jahr lang eine „richtige“ Schulbank drücken.
Von Lehrereltern bis „Edupunks“
Die elterlichen Motive für die Schulverweigerung sind Legion: Bei einigen wenigen gibt religiöser Fundamentalismus den Ausschlag. Andere finden, fernab größerer Städte lebend, keine ihren Vorstellungen entsprechende Schule. Meist ist es aber ein gänzlich anderes Bild des Lernens, das Eltern der Institution Schule den Rücken kehren lässt. Entsprechend unterschiedlich läuft auch der häusliche Unterricht ab: Das Spektrum reicht von der ins traute Heim verlegten Schule, in der die Kinder nach einem straffen Stundenplan den Lehrstoff pauken, bis zu den „Unschoolern“, die ihrem Nachwuchs ohne Leistungsdruck Zeit geben, sich Alphabet, die Bezirke Wiens oder das Wissen über den Weltraum dann anzueignen, wenn er bereit dazu ist. Lernen findet immer und überall statt: „Unsere Kinder haben keine fixen Unterrichtsstunden, aber auch keine Freizeit, haben nie oder immer Ferien, lernen manchmal um sieben Uhr früh und manchmal um acht Uhr abends“, bemüht man sich bei den „Freilernern“, einem Netzwerk gleichgesinnter Eltern (www.freilerner.at), ein immer wieder geäußertes Vorurteil zu entkräften.
Lernen, wann es Spaß macht?
Zu jenen, die ihr Kind frei lernen lassen, gehört auch Jacqueline Godany. Ihre Entscheidung, erzählt die alleinerziehende Mutter, sei mit den Jahren gereift, in denen sie Sophie dabei beobachtet habe, wie in dem ihr eigenen Tempo Fähigkeiten und Wissen quasi von selbst gekommen seien. Als ihre Tochter nach zwei Jahren den Kindergarten verweigerte, war klar: Sophie bleibt „unschooled“, soll sich nicht von einem Schulsystem „wie im Mittelalter“ brechen lassen. „Wenn wir hungrig sind, essen wir, wenn wir müde sind, gehen wir schlafen. Aber bei unseren Kindern lassen wir zu, dass 50-Minuten-Unterrichtseinheiten und starre Lehrpläne ihren natürlichen Lerneifer und ihre Kreativität töten?“ Dass Sophie nicht in die Schule geht, stoße in der Familie nicht unbedingt auf Verständnis. Die Sorge, Sophie würde „dumm bleiben“, hofft Jacqueline Godany spätestens mit dem ersten Zeugnis, das ihre Tochter von einer staatlichen Bildungsinstitution bekommt, vom Tisch wischen zu können. Rückendeckung bekommt die freiberufliche Fotografin insbesondere vom Netzwerk der Freilerner. Ihnen – zu einem beträchtlichen Teil übrigens „Bildungsflüchtlinge“ aus Deutschland, wo Schulpflicht besteht und schulverweigernden Eltern hohe Strafen drohen – geht es auch um eine grundlegende Reform des Schulsystems. „Selbstmotiviertes Lernen“, so Godany, „lässt sich nicht mit jährlich vorgefassten Lehrplänen vereinbaren“. „Hier und da am Schulsystem zu schrauben bringt gar nichts“. Ihre Vision: Die Schule müsse einen Rahmen für Bildung bieten, die Kinder sich bei Bedarf abholen könnten. Bis dahin ist für Sophie das ganze Leben Schule: Sie begleitet ihre Mutter zu einem Fotoauftrag ins Parlament, erkundet mit ihr die Hauptbahnhof- Baustelle, spielt sich bei einem Online-Game durch ein „richtiges“ Schulgebäude oder schreibt Einkaufszettel …
Ist es eine Frage des Geldes?
Alles wunderbar. Allerdings braucht es hierfür bestimmte Rahmenbedingungen:
- In erster Linie eine Betreuungsperson, die für das Kind quasi rund um die Uhr da ist (und das auch sein will) – was voraussetzt, dass diese gar nicht, in Teilzeit beschäftigt oder selbständig tätig ist, ihre Zeit flexibel einteilen oder sich mit einer anderen Person abwechseln kann. Kein leichtes Unterfangen, für das viele Freilerner-Eltern ihr Leben umzustellen bereit sind: Sie wandern aus, geben den Job auf oder reduzieren ihn deutlich, nehmen finanzielle Einbußen hin. Dass sich das nicht jeder leisten könne, wollen sie so nicht stehen lassen. Es gehe darum, im Sinne des Unschooling-Pioniers John Holts jedem – auch einkommensschwachen Familien – zu ermöglichen, seine Kinder mit dem notwendigen Respekt großzuziehen. Und das sei einzig eine Frage des Systems und nicht des monetären Hintergrunds. Oder, wie Jacqueline Godany es formuliert: „Homeschooling ist auch eine Art Lifestyle, den man sich durchaus leisten kann“.
Amerika statt Algebra?
Manchmal verläuft ein ambitioniertes Projekt aber auch etwas turbulenter als gedacht. So wie bei Elisabeth Graf*. Als ihr Sohn Michael* ins schulpflichtige Alter kam, begründete die Freiberuflerin und Montessoripädagogin eine Montessorischule mit. Aus finanziellen Gründen –und weil man die angestrebte Qualität nicht hätte halten können – kam nach wenigen Jahren das Aus. Michael wechselte in die dritte Klasse der öffentlichen Schule … und holte bis dahin Versäumtes binnen Wochen auf. Wohin aber nach der Volksschule? In der örtlichen Hauptschule wäre Michael nach Meinung der Lehrerin unterfordert gewesen, den langen Weg ins nächste Gymnasium wollte Elisabeth Graf ihrem Sohn ersparen, also meldete sie ihn zum häuslichen Unterricht ab. „Einen Monat lang ging das gut“, erzählt sie, dann beschäftigte sich der Bursch lieber mit anderem als dem Schulstoff. „Und ich steckte mitten in einem großen beruflichen Auftrag“. „Ich konnte also nicht dahinter sein“. Um das Projekt Homeschooling nicht scheitern zu lassen, wählte Graf einen ungewöhnlichen Weg: Kurzerhand reiste sie mit Michael und seinem jüngeren Bruder nach Kalifornien. Dort besuchten die beiden einige Monate eine Sudbury Valley School, in der Schüler in Sachen Lernen und Schulorganisation selbstbestimmte, gleichberechtigte Partner sind. „Eine tolle Erfahrung“, die zwei Jahre später wiederholt wurde. Seit der sechsten Schulstufe geht Michael ins Gymnasium. Täglich eineinhalb Stunden hin, eineinhalb Stunden zurück. Glücklich ist er nicht, er wäre bereit für einen zweiten Versuch Homeschooling. Seine Mutter nicht. „Dafür braucht es eine Person, die den ganzen Tag für die Kinder da ist. Ich bin beruflich aber zu sehr eingespannt. Außerdem leben wir ziemlich abgeschieden, Michael würde zu wenige soziale Kontakte haben“.
Fehlt die Gruppe?
Die Gefahr eines Mangels an Beziehungen ortet auch Bildungsexpertin Elisabeth Stanzel-Tischler. „Das Kind ist allein mit den Eltern, es fehlt die Erfahrung mit anderen Erwachsenen. Man nimmt den Kindern Beziehungsmöglichkeiten, die sie in dem Alter aufbauen können. Ebenso fehlt das Erlebnis mit anderen Kindern in der Gruppe„. Diese Sorge teilt Klaudia Schultheis, Inhaberin des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik an der KU Eichstätt-Ingolstadt: „Alles, was das soziale Lernen ausmacht, fällt beim Homeschooling weg: sich in der Gruppe durchsetzen, Kompromisse schließen, Konflikte friedlich lösen“. Sozialkompetenz, hält Volker Ladenthin von der Abteilung Bildungswissenschaft der Universität Bonn, entgegen, könne man auch woanders als in der Schule lernen: „Dass ein Kind in der eigenen oder in der Nachbarklasse Freunde findet, lässt sich nicht erzwingen“. Also eignen sich auch der Fußballverein und der Chor für soziale Kontakte. „überzeugte Home- und Unschooler sehen das naturgemäß ähnlich: „Wir Eltern übernehmen die Verantwortung dafür, dass unseren Kindern eine anregende Lernumgebung mit angemessenen Sozialkontakten zur Verfügung steht“, stellt man auf der Website des Familiennetzwerks der Freilerner unmissverständlich klar. „Unser Ziel ist es, das Heranwachsen unserer Kinder bestmöglich zu begleiten, damit sie zu selbständigen und verantwortungsbewussten Erwachsenen werden, die ihr Leben als freie, unabhängige Menschen meistern können“. Dieses Ziel aber verfolgen wohl die meisten Eltern … ob Schooler, Homeschooler oder Unschooler! * Name von der Redaktion geändert