„Terrible Twos“ werden Kinder im englischen Sprachraum genannt, die gerade ihr „Ich“ entdecken. Schreckliche Zwei. Das lässt mich spontan an den schrecklichen Sven aus der TV-Serie Wickie und die starken Männer denken. Verhalten sich Kinder im Alter zwischen 1,5 und ca. 3 Jahren wirklich so Furcht einflößend?
In einer ähnlichen Tönung erteilen viele Ratgeber und Websites Ratschläge für die „Autonomiephase“, wie die Trotzphase nun genannt wird, sogar von „Terrorakten“ ist die Rede! Woher kommt diese Angst vorm Kleinkind? Solch ein Blick auf das Kind entspringt einer „alten Haltung der Pädagogik„, erklärt Familienberaterin Elisabeth Ehgartner im Interview mit NEW MOM. Die erfahrene Pädagogin und Mutter von 4 Kindern ist als Familiencoach nach Jesper Juul tätig und leitet Spielräume nach Emmi Pikler in der Nähe von Neulengbach (NÖ). Im Spielraum begleitet sie Babys und Kleinkinder im Beisein ihrer Eltern bei ihrer selbstständigen Bewegungsentwicklung und unterstützt Mütter und Väter im entspannten und respektvollen Umgang mit ihrem Kind.
INTERVIEW MIT ELISABETH EHGARTNER
NEW MOM: Frau Ehgartner, alle Eltern kennen solche Situationen: Mama hat das Butterbrot in Streifen anstatt in Würfel geschnitten. Bei diesem Anblick fängst das Kind an wütend zu schreien. Warum reagiert ein Kind in diesem Alter so heftig?
ELISABETH EHGARTNER: Die Kinder sind im Begriff, ihren Willen zu entdecken. Das heißt, sie fühlen sich dazu in der Lage, selbst zu bestimmen, was sie möchten und was nicht. Wenn aber auf diesen tiefen Wunsch, ein anderer Wille (z. B. der der Mutter) trifft – als Widerstand und Grenze – so entstehen starke Gefühle: Ärger und Wut! Diese müssen sofort ausgedrückt werden, das Kind kennt (noch) keine Affektkontrolle.
NEW MOM: Was braucht ein Kind in so einer Situation am meisten?
ELISABETH EHGARTNER: Verständnis für Gefühl! „Das ärgert dich jetzt aber wirklich!“, „Soooo sehr willst du das!“ „Ja, ich merke, wie gerne du das so haben willst!“ Das heißt aber nicht, es immer nach dem Willen des Kindes zu tun; manchmal ist aber auch Nachgeben nicht falsch – zum Beispiel könnte die Mutter entscheiden, dass sie die Streifen durchaus ohne große Mühe bzw. Schaden/Gefahr für das Kind in Würfel schneiden kann. Es geht nicht um: Wer setzt seinen Willen durch – es geht um das Anerkennen des tiefen Wunsches und auch um das gemeinsame Aushalten des starken Gefühls, wenn der Wunsch nicht erfüllt werden kann.
NEW MOM: Wie sehen Sie die Bezeichnung „Trotzphase“?
ELISABETH EHGARTNER: Trotzphase ist ein Begriff der „alten Pädagogik“, als man Kinder wahrnahm als Wesen, die noch keine Kompetenzen haben und auch noch keinen Respekt verdienen. Die Sicht aufs Kind reichte vom unbeschriebenen Blatt, das wir füllen müssen (durch Erziehung), bis zum grundsätzlich zum Bösen neigenden Geschöpf, dem wir „das Richtige“ einbläuen müssen. Das wirkt heute noch in unseren Köpfen, obwohl die meisten Eltern gerne anders erziehen möchten.
NEW MOM: Was ist das Besondere an dieser Zeit?
ELISABETH EHGARTNER: Dieser Prozess setzt oft für Eltern überraschend ein. Wenn das Kind bisher kooperativ und lenkbar war, sich aber plötzlich im Supermarkt auf den Boden wirftund brüllt. Oft höre ich Eltern sagen: „Mein Kind will mich ständig austesten.“ In solchen Aussagen schwingt mit, dass das Kind über die Eltern bestimmen will und deshalb müsse man frühzeitig damit beginnen, selbst die Macht zu behalten.
Viele neue Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie haben uns aber gelehrt, dass Kinder nichts der-gleichen wollen. Vielmehr ist ihr echtes Bedürfnis, über sich selbst zu bestimmen und in der Welt, in der sie leben, wirksam und wertvoll zu sein.
NEW MOM: Kinder wollen selbständig sein. Wie können Eltern mit diesem Bedürfnis umgehen?
ELISABETH EHGARTNER: Meines Erachtens ist es wichtig, eine Haltung des Wohlwollens gegenüber dem erwachenden eigenen Willen des Kindes zu entwickeln. Ich unterstelle meinem Kind nicht, dass es mich in den Wahnsinn treiben will, sondern weiß darüber Bescheid, dass es einfach nur seinen eigenen Interessen nachgeht, weil es die Interessen seines Gegenübers noch nicht kennt. Mit dem Wissen, dass Empathie erst im Volksschulalter ausgereift ist (wenn genug empathische Menschen um das Kind herum sind), kann ich diesem kleinen außer sich geratenen Wesen ganz anders gegenübertreten!
NEW MOM: Wie kann man einem Kind, dass z.B. selbst den Reißverschluss zumachen möchte, vermitteln, dass gerade keine Zeit dafür ist?
ELISABETH EHGARTNER: Ich kann meinem Kind sagen, wie es mir selbst gerade geht – und einen kurzen Moment warten, bis die Botschaft ankommt. Gleichzeitig drücke ich auch aus, dass ich sein Bedürfnis wahrnehme: „Ich sehe, dass du den Zipp sooo gern selber zumachen möchtest. Du probierst das jetzt schon ganz schön lang und ausdauernd. Wir müssen aber jetzt los, weil … wartet. – Kurze Pause – Hört mir mein Kind zu? – „Darf ich dir helfen?“ – Pause. Ist die Frage beim Kind angekommen? – „Ich stecke den Zipp zusammen – du kannst jetzt daran ziehen.“
Der Schlüssel ist einerseits das Warten und Schauen, ob ich angekommen bin, und andererseits das Angebot zur Kooperation. Die Alternative wäre heftiger Widerstand des Kindes gegen ein rasches Eingreifen „über seinen Kopf hinweg“. Dafür braucht man auf alle Fälle mehr Zeit und Nerven!
NEW MOM: Haben Sie Tipps für Eltern, um derlei Alltagssituationen entspannt zu gestalten?
ELISABETH EHGARTNER: Natürlich fühlt sich dieses Vorgehen am Anfang fremd und „unnatürlich“ an. Wir alle haben es anders erlebt. Und in unserer Umwelt ist es auch heute noch selten, Eltern/Pädagogen zu erleben, die Kindern in dieser Art und Weise begegnen. Aber wie beim Erlernen einer Fremdsprache: Durch beständiges Üben und Experimentieren
wird diese Art, mit kleinen Kindern zu kommunizieren, immer vertrauter und geht mit der Zeit „in Fleisch und Blut“ über. Wenn wir unsere Kinder zur Mitarbeit einladen und ihre Signale respektieren, gewinnen wir sie als gleichwürdige Partner – auch wenn wir als die (Lebens-)Erfahreneren weiter die Führung übernehmen müssen.
NEW MOM: Vielen Dank für das berührende Interview!
Ratgeber, die Kinder als kleine Ungeheuer darstellen, deren trotziges Verhalten wir ihnen abgewöhnen müssen, gehören nicht in die Hände verunsicherter Eltern, sondern in die Altpapiertonne. Diese alt-hergebrachten Glaubenssätze schädigenden die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Wir sollten sie lieber endlich hinter uns lassen!
Elisabeth Ehgartner ist Mutter von vier Kindern, Pädagogin und Familiencoach nach Jesper Juul und leitet Spielräume nach Emmi Pikler.
Autor:in:
Zur Person Mag. Petra Autherid ist ausgebildete Kindergartenpädagogin und studierte Erziehungswissenschaften. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit arbeitet sie in einem Montessori-Kindergarten. Aktuelle Artikel