Mein Kind ist schüchtern – Na und?
„Hallo, Lina, wie geht es dir?“, fragt die Nachbarin das sechsjährige Mädchen, als sie mit Linas Mama vor dem Supermarkt ein paar Worte wechselt. Lina schaut zu Boden und haucht kaum hörbar: „Hallo!“ Darauf meint Linas Mutter Christina verlegen: „Entschuldige bitte, Lina ist ein schüchternes Mäuschen.“ Die beiden Frauen lachen.
Aber eigentlich ist Christina gar nicht zum Lachen zumute. Langsam macht sie sich Sorgen um die Entwicklung ihrer Erstklässlerin. Ist alles normal bei ihrer Tochter? Der kleine Blondschopf weigert sich, anderen in die Augen zu schauen, spricht außerhalb der Familie nicht oder nur ganz leise, fragt andere niemals von sich aus etwas und ist auch in der Schulklasse immer ein wenig auf Abstand zu anderen.
Sonst ist Lina ein fröhliches Mädchen und zu Hause kann sie schon einmal lautstark ihre Meinung kundtun. Sprachprobleme oder gar eine Sprachstörung hat Lina sicher nicht! Trotzdem ist Christina besorgt. Linas zehnjähriger Bruder ist ganz anders: Er geht auf andere Kinder zu, stellt auch Erwachsenen viele Fragen und ist immer von einer Menge Freunden umgeben. So wie Christina geht es vielen Eltern. Das eine Kind ist aufgeweckt und sozial aufgeschlossen, das andere in sich gekehrt und schüchtern.
Wie können Eltern ihrem schüchternen Kind helfen? Die Kinderpsychologin Mag. Simone Fröch weiß aus ihrer täglichen Arbeit mit Kindern Bescheid. Sie hat uns drei wichtige Fragen beantwortet:
Woher kann Schüchternheit kommen?
Schüchternheit kann viele Ursachen haben. Grundsätzlich gilt:
Jedes Kind hat Interesse an sozialem Anschluss und daran, anerkannter Teil einer Gruppe zu sein. Dennoch sind Kinder verschieden:
- Es gibt Kinder, die grundsätzlich keine Lust darauf haben, laut und aktiv in eine Gruppe hineinzugehen. Oft sind das Kinder, die von ihrem Naturell her mehr beobachten wollen. Das hat mit Schüchternheit gar nichts zu tun.
- Wenn eine solche Verhaltensweise aber eine Form von sozialer Ängstlichkeit ist, dann braucht das Kind jemanden, der ihm hilft.
Wie Kinder in sozialen Gruppen auftreten, kann auch damit zu tun haben, was von ihnen verlangt wird. Ein Kind, das zu Hause ständig hört: „Jetzt sei einmal still“, „Kannst du nicht einmal Ruhe geben?“ oder „Lass mich das machen“, wird sich in sich zurückziehen. Eltern, die fordern, dass ihr Kind in der Schule laut und aktiv ist und immer im Mittelpunkt steht, aber zu Hause ein angepasstes, stets „braves“ Kind möchten, verwirren ihr Kind.
Schön ist es hingegen, wenn Eltern ihre Kinder ernst nehmen, sie in ihrer Eigenständigkeit unterstützen und gemeinsam mit ihnen die Welt entdecken. Gerade in Sachen Schüchternheit hat das Vorbild der Eltern einen großen Einfluss auf das Verhalten der Kinder. Eine Mama, die sich wünscht, dass sich ihr Kind im Kindergarten angemessen zur Wehr setzt, wenn ihm das Spielzeug weggenommen wird, sich selbst aber von anderen immer alles gefallen lässt, ist kein gutes Modell. Deshalb gilt: Vom Kind nicht ein bestimmtes soziales Verhalten fordern, sondern es vorleben!
Auch einzelne frühe, prägende Erfahrungen können zu „schüchternen“ Verhaltensweisen führen. Eine fremde Frau strahlt den kleinen Emil an. Emil strahlt zurück, da schnappt sich die Frau den Kleinen und drückt ihn. Das schockt Emil so sehr, dass er von diesem Zeitpunkt an Angst bekommt, wenn Fremde ihn anlächeln. Grenzüberschreitungen wie diese können schüchternes Verhalten hervorrufen.
Wie kann man schüchternen Kindern den Rücken stärken?
Jedes Kind ist anders. Wir können Kindern generell den Rücken stärken, indem wir ihnen zuhören und sie dabei unterstützen, ihre individuellen Fähigkeiten zu entfalten.
- Die fünfjährige Ena sagt: „Ich will auch einmal selbst beim Bäcker einkaufen.“ Beim ersten Mal geht ihre Mama mit ihr hinein und bleibt neben ihr stehen, während sie einkauft. Das nächste Mal geht sie mit Ena bis zum Bäcker und bleibt vor der Eingangstüre draußen stehen. Diese kleinen Schritte helfen Ena, ihr Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu stärken.
- Wenn ein Kind Angst davor hat, dass andere Kinder sagen könnten: „Wir lassen dich nicht mitspielen“, dann braucht es Strategien für einen selbstbewussten Abgang. Es könnte zum Beispiel sagen: „Das ist aber gemein von euch“ oder „Dann kann ich euch halt nicht meine Tricks zeigen, die ich bei dem Spiel kann“ oder „Na gut. Vielleicht morgen.“ So hat das Kind einen Vorrat an Sätzen, die es sagen kann, wenn es scheitert. Oder aber das Kind kann am nächsten Tag ein interessantes Spiel mitnehmen und andere Kinder aktiv zum Mitspielen einladen.
Eltern können ihr Kind nicht auf alles vorbereiten. Es wird immer wieder einmal in Situationen geraten, die ihm unangenehm sind, oder von „stärkeren“ Kindern „angestänkert“ werden. Eltern können mit dem Kind für solche Fälle Strategien entwickeln: Weglaufen oder mit einer starken Bärenstimme sagen: „Lass mich in Ruhe!“
Was ist ein absolutes No-Go im Umgang mit schüchternen Kindern?
Sie zu überfordern oder zu etwas zu zwingen. Das trifft auf alle Kinder zu, ob schüchtern oder nicht. Von ihnen etwas zu verlangen, was sie auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe noch nicht können.
- Zum Beispiel das Kind allein einkaufen zu schicken, wenn es noch nicht so weit ist.
- Schlecht sind auch Sätze wie „Das macht mich traurig“, „Du blamierst mich“ oder andere Formen subtiler Gewalt, Strafe oder starker Druck.
Wann ist Schüchternheit ein Wesensmerkmal und wann müssen sich Eltern Sorgen machen oder gar Hilfe von außen annehmen? Mütter und Väter dürfen auf ihr Bauchgefühl achten. Wenn sie merken, dass ihr Kind massiv unter seiner Schüchternheit leidet, und nicht mehr weiterwissen, können sich die Eltern fachliche Hilfe suchen. Aber oft hilft es, einfach miteinander zu üben und zu trainieren. Bei der Begrüßung Blickkontakt herzustellen, ist eine wichtige soziale Spielregel. Das darf auch Lina lernen. Christina übt das jetzt mit ihrer Tochter zu Hause vor dem Spiegel. Da müssen beide dann stets laut lachen. Schüchtern klingt das dann gar nicht mehr.
Fachliche Unterstützung
Mag. Simone Fröch ist Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin, Supervisorin und Coach und arbeitet an ihren beiden Praxis-Standorten in Wien und in Tirol.
Tel: 0650 753007
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Autor:in:
Zur Person DI Roswitha Wurm Dipl. Legasthenie-, Dyskalkulie- und Lerntrainerin, Buchautorin und freie Redakteurin, (Sport)mentaltrainerin https://lesenmitkindern.at/ Aktuelle Artikel