Was ist das und warum sollte es uns wichtig sein?
Haben Sie auch manchmal das Gefühl, dass unsere Welt auf eine stereotyp männliche Norm ausgelegt ist? Caroline Criado Perez hat es in ihrem Buch „Invisible Women“ so formuliert: Männer sind der Standard. Aber was bedeutet das genau und welche Auswirkungen hat das speziell in der Medizin?
Männer als Standard?
Vorab sei gesagt: Das soll natürlich nicht bedeuten, dass Männer böse sind und den Frauen nur Schlechtes wollen. Nein, es bedeutet, dass Männer und Frauen verschieden denken. Warum? Weil sie verschieden sind.
Männer haben einen anderen Körper, bekommen von ihrer Umgebung andere Attribute zugesprochen und sollen andere Aufgaben übernehmen als Frauen. Unterschiede gibt es also im Lebensstil, im Umfeld, im Verhalten, aber auch biologisch, auf molekularer und zellulärer Ebene.
Dass heutzutage immer noch 91 Prozent der Geschäftsführerpositionen in Österreich von Männern besetzt sind, ist einer der vielen Gründe, warum hauptsächlich „männlich“ gedacht wird, auch wenn Männer nur 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Aber warum genau stellt das ein Problem dar und warum brauchen wir nun Gendermedizin? Auch in der Medizin werden Männer als Standard gesehen: In der Ausbildung lernen StudentInnen zum Beispiel „typische“ (die männlichen) und „atypische“ (die weiblichen) Herzinfarkt-Symptome. Studien wurden historisch vor allem an (weißen) Männern durchgeführt und die Ergebnisse generalisiert. Aber, um es zu wiederholen: Wir sind nicht alle gleich.
Welche Studien an Frauen gab es?
Nach dem Thalidomid-(„Contergan“)-Skandal in den 1960er Jahren wurden gebärfähige Frauen aus Studien ausgenommen. Thalidomid ist ein Medikament, das für schwangere Frauen als Schlaf- und Beruhigungsmittel zugelassen wurde. Auslöser des Skandals war die Tatsache, dass das Medikament zu Fehlbildungen bei ungeborenen Kindern führte. In der Folge wurden Krankheiten sowie die Wirkung von Medikamenten fast ausschließlich an Männern erforscht und die Forschungsergebnisse auf Frauen übertragen.
Seitdem hat sich vieles getan. Unter anderem haben Frauengesundheitsbewegungen dazu beigetragen, dass Frauen wieder in Studien eingeschlossen werden und Daten nach demographischen Parametern sowie dem Geschlecht analysiert werden. Mittlerweile erforschen wir auch weibliche Erkrankungen wie zum Beispiel Brustkrebs und wissen, dass auch Frauen an Herz- Kreislauf-Erkrankungen leiden.
Von leitenden Organisationen wie der US Food and Drug Administration (FDA) werden spezifische Anforderungen gesetzt, um Unterschiede zu analysieren. Ob Frauen in Studien noch immer unterrepräsentiert sind, ist allerdings nicht leicht herauszufinden, denn die Literatur ist sich hier nicht einig. Konsens besteht jedoch darüber, dass Frauen schwieriger für Studien zu rekrutieren sind.
Hier stellt sich die Frage: warum? Eine Begründung lautet, dass Frauen zeitlich weniger flexibel sind, zum Beispiel weil sie den Hauptanteil an Care-Arbeit leisten. Wie kann es dann aber sein, dass in Studien für die Gesichtsfaltenkorrektur 90 Prozent Frauen inkludiert waren und in Studien für Stents der Herzkranzgefäße nur 32 Prozent Frauen? Anscheinend ist es doch möglich, Studienbedingungen für Frauen attraktiv zu gestalten.
Frauen weisen bei Herzkranzgefäß-Stent-Einlage schlechtere Resultate als Männer auf – ein Zufall? Auch über Autoimmunerkrankungen bei Frauen wissen wir noch viel zu wenig. Ungewollte Schwangerschaften kommen nach wie vor zustande, denn das ideale Verhütungsmittel fehlt noch immer. Frauen verstoffwechseln Medikamente anders, dadurch sind Dosierungen von Medikamenten für sie oft nicht passend. Auch Studien in verschiedenen Zyklusphasen der Frau fehlen.
Was ist mit Schwangeren und Stillenden?
Schwangere und Stillende werden noch seltener in Studien eingeschlossen. Sie gelten als „vulnerable“ Population und „verkomplizieren“ Studienabläufe. Die Konsequenz ist aber, dass Schwangeren routinemäßig Medikamente verschrieben werden, die nicht an ihnen getestet wurden.
Das lässt Fragen offen, zum Beispiel: Was sind adäquate Dosierungen für Schwangere? Es ist verständlich, dass schwangere Frauen zurückhaltend sind, wenn es darum geht, an Studien teilzunehmen. Wir sollten aber Routinedaten besser sammeln, zum Beispiel indem wir Daten über Nebenwirkungen von Medikamenten nachverfolgen, die Schwangere unabhängig von einer Studie sowieso einnehmen würden. Das würde wichtige Informationen liefern, ohne dass an Schwangeren „getestet“ werden muss.
Außerdem sollten wir nicht die Frage beantworten, „ob“, sondern „wie“ Schwangere sicher an Studien teilnehmen können. Das wird mittlerweile etwa von der FDA unterstützt.
Was ist Gendermedizin?
Gendermedizin ist allerdings noch viel mehr als die Darstellung der Unterschiede zwischen Frau und Mann und auch nicht mit Frauenmedizin gleichzusetzen. Gendermedizin beschäftigt sich mit biologischen Fragen, aber auch mit dem durch das soziale Umfeld und unsere gesellschaftlichen Geschlechtervorstellungen geprägten Weltbild. Es ist eine interdisziplinäre Herangehensweise, die die Zusammenarbeit verschiedenster Bereiche erfordert und ein Bewusstsein für vielfältige Normen schafft, um Gesundheit zu fördern.
Auch Männer leiden unter der stereotypen „männlichen“ Norm. Psychische Erkrankungen werden zum Beispiel viel eher Frauen zugeschrieben. Männer, die eine psychische Erkrankung haben, werden häufig tendenziell als „unmännlich“ betrachtet und suchen daher seltener Hilfe, wodurch eine adäquate Therapie verhindert wird. Gendermedizin erkennt auch an, dass das genetische Geschlecht nicht unbedingt mit dem chromosomalen, genitalen, sozialen oder psychologischen Geschlecht übereinstimmen muss. Dies ist etwa der Fall, wenn ein genetischer Mann sich als Frau identifiziert.
Es liegt noch ein weiter Weg vor uns, doch es können durchaus schon Erfolge gefeiert werden, wie zum Beispiel offizielle Anforderungen zur Inkludierung von diversen Gruppen in Studien. Es braucht allerdings ein Bewusstsein in uns allen, um in dieser Thematik relevante Fortschritte erzielen zu können. Es gibt nicht nur eine Norm, auch nicht (oder gerade nicht) in der Medizin.
Autor:in:
Dr. med. univ. Valentina Marino-Melán, MSc
Dr. Valentina Marino-Melán ist Ärztin für Kinder- und Jugendheilkunde. Sie verfügt über einen Public Health Hintergrund und hat eine besondere Leidenschaft für globale Mutter-Kind-Gesundheit.