Modediagnosen im Kindesalter – ein neuer Spleen?
Von A wie Autismus bis Z wie Zwangsstörung – fast wirkt es so, als würde heute jedes Kind eine Diagnose brauchen. Dabei ist vieles schlicht „Entwicklung“. Grenzen auszutesten, sich auszuprobieren und zu einer Persönlichkeit heranzureifen ist eben wahnsinnig aufregend.
Greta Thunberg ist derzeit wahrscheinlich die bekannteste Person mit Asperger-Syndrom. Anders als viele andere hat sie diese „Trenddiagnose“ tatsächlich schwarz auf weiß. Die Klimaaktivistin zeigt in ihrem Verhalten auch typische Merkmale der Krankheit, die heute als mildere Verlaufsform einer Autismus-Spektrum- Störung (ASS) angesehen wird:
- Sie spricht wie eine Erwachsene
- verfügt über einen ungewöhnlich großen Wortschatz und gilt als überdurchschnittlich intelligent.
Doch nicht alle autistischen Kinder entwickeln sich so gut wie Asperger-Autisten. ASS tritt in unterschiedlichen Graden auf.
Schwerere Verlaufsformen der tiefgreifenden Entwicklungsstörung können viele Verhaltensbereiche betreffen.
- Kinder mit frühkindlichem Autismus nehmen beispielweise ihre Umwelt nicht wahr
- erwidern Lächeln nicht
- haben keinen Blickkontakt
- und zeigen bereits vor dem dritten Lebensjahr eine massiv beeinträchtigte Entwicklung.
- Stereotype Verhaltensmuster und Aktivitäten sowie starkes Interesse an bestimmten Gegenständen oder die intensive Beschäftigung mit eng begrenzten Interessengebieten sind für viele Menschen mit ASS typisch.
Auch die resolute Schwedin brennt für eine Sache und zieht mit der Initiative „Fridays for Future“ mittlerweile die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich.
KÜCHENPSYCHOLOGIE – FATALE FOLGEN
Aber nicht jedes Kind, das ein Faible für ein bestimmtes Thema entwickelt, schüchtern wirkt oder keine Freunde hat, ist autistisch. So wie nicht jedes unruhige Kind vom Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätssyndrom (kurz ADHS) betroffen ist und nicht jeder, dem vor etwas ekelt, eine Zwangsstörung hat.
Viel öfters sind dies ganz normale Phänomene der kindlichen Entwicklung, die Eltern vor immer neue Herausforderungen stellen. Ganz erstaunlich, wie schnell der Spleen manchmal einen Namen bekommt, um Erklärungen für merkwürdiges Verhalten parat zu haben. Dem zum Trotz werden die wenigsten vermeintlichen „Zappelphilippe“, „Nerds“ oder „verkappten Genies“ bei einem Psychologen oder einer Psychiaterin vorstellig.
Bedauerlich, denn gerade bei Erkrankungen im Kindesalter, die tatsächlich die Entwicklung beeinträchtigen können, wäre eine seriöse Diagnostik besonders wichtig. Nur mit der Klarheit darüber, was auf die Seele drückt, warum das Kind nicht ruhig sitzen kann oder lieber alleine spielt, lässt sich angemessen reagieren. Spezielle Bedürfnisse brauchen schließlich einen speziellen Umgang, gezielte Förderung oder in manchen Fällen eine medikamentöse Behandlung.
SIND SERIÖSE DIAGNOSEN SINNVOLL?
Alexander sitzt seit Kurzem in der ersten Reihe direkt vor der Tafel. Langsam lernt der bislang als besonders aufmüpfig und schlampig geltende Störenfried, länger bei einer Sache zu bleiben, und verzeichnet erste Erfolge. Das war nicht immer so. Denn der Neunjährige flog bereits von zwei Schulen, ehe sich seine Mutter dem Kinderarzt anvertraute. Der überwies sie zu einer Kinderpsychologin, die mit kindgerechten Methoden zur Diagnose ADHS kam. Sie brachte Klarheit und Entlastung für die ganze Familie.
Denn ADHS ist kein Erziehungsproblem und schon gar nicht ein schlechter Charakterzug. Betroffene Kinder brauchen klare Regeln, positive Verstärkung und gezielte therapeutische Maßnahmen.
Mithilfe einer Ergotherapeutin besserte sich Alexanders motorische Unruhe, und die Schule reagierte problembewusst. Nach einem ausführlichen Gespräch der Psychologin mit den Eltern und der Lehrerin darf Alexander ganz vorne sitzen und wurde zum „Tafellöscher“ befördert. Das verkürzt nicht nur die Phasen des „Ruhig-sitzen-Müssens“, der Dienst an der Klassengemeinschaft macht den bewegungsfreudigen Volkschüler auch ganz besonders stolz.
IST JEDES GENIE EIN AUTIST?
Bill Gates, Steve Jobs, Mark Zuckerberg – allesamt kluge Köpfe und geniale Strategen, und alle schon mal als Autisten bezeichnet. Urplötzlich wird so aus einer ernsten Diagnose ein „Must-have“.
Doch so wie jede Blinddarmentzündung gewisse Symptome macht und es für eine eindeutige Diagnose Befunde zu erheben gilt, werden auch im psychischen Bereich Gutachten sorgsam und nach einem klaren Pfad erstellt. Testbögen, Fragetechniken und Symptomkataloge kommen zum Einsatz, ehe sich schlussendlich ein Verdacht erhärtet oder entkräften lässt.
In Österreich leiden übrigens
- etwa fünf von 100 Kindern und Jugendlichen an ADHS
- von der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung sind hierzulande etwa 87.000 Menschen betroffen
- und frühkindlicher Autismus tritt bei 16 von 10.000 Kindern auf.
Also auf in professionelle Hände, bevor man vorschnell und salopp meint: „Das ist doch nicht normal!“.
DIAGNOSE ADHS
Wie zeigt sich ADHS?
- Unaufmerksamkeit
- Hyperaktivität
- Impulsivität
- oft zusätzlich Probleme im Sozialverhalten
Gründe für ADHS?
- genetische Veranlagung
- Filterschwäche des Gehirns bei der Verarbeitung von Dopamin/Noradrenalin
- Besonderheiten in der biologischen Reifung von Hirnfunktionen (z. B. Impulsivität, motorische Unruhe)
- etwa 50 % der Eltern litten als Kinder an einer ähnlichen Problematik
Welche Probleme können Kinder mit ADHS haben?
- emotionale Probleme /negativer Selbstwert: 85 %
- Lernprobleme: 80 %
- soziale Anpassungsprobleme: 65 %
- Klassenwiederholungen: 28 %
Und: Was könnte es denn sonst noch sein?
- Störungen des Sozialverhaltens
- tiefgreifende Entwicklungsstörungen
- intellektuelle Behinderung
- Epilepsie, andere körperliche Erkrankungen
- Anpassungsstörungen, Belastungsreaktionen oder Bindungsstörungen
- altersgemäße Verhaltensweisen bei aktiven Kindern
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Zur Person: Katharina Wallner ist frei praktizierende Hebamme, Pädagogin und unterrichtet an der Fachhochschule Campus Wien am Studiengang Hebammen. Sie begleitet Familien von der Schwangerschaft bis ins Kleinkindalter. Aktuelle Artikel