Als ich meine Manu kennen lernte und mir langsam dämmerte, ich will sie oder keine, täuschte und tarnte ich und mutierte flugs zum perfekten Gentleman! Ich erschien pünktlich auf die Minute bei unseren Rendezvous und überraschte sie mit Blumen. Ich hielt ihr die Türen auf, achtete darauf, beim Essen nicht laut zu schmatzen und beim jeweiligen Gang auch das dafür vorgesehene Esswerkzeug nicht zweckentfremdet zu verwenden. (Bei der Wahl des Weines ließ ich vermutlich jedes Mal den Klugscheißer heraushängen, aber meine Herzallerliebste hat Gott sei Dank über dieses männliche Imponierverhalten großzügig hinweggesehen.)
Kurz gesagt: Ich zeigte mich von meiner Schokoladenseite. Als ich Manu beim Verlassen des Lokals in den Mantel helfen wollte, nahm sie ihn mir lachend ab: „Nein danke, es ist schon allein schwierig genug!“ „Ich wollte nur höflich sein!“, entschuldigte ich mich. „Ich weiß!“ Manu zwinkerte mir zu. „Aber die Zeiten ändern sich. Außerdem bin ich ohnehin schon längst von deinen guten Manieren überzeugt! Ehrlich!“ „Na dann …“, sagte ich, „Nimmste die Pille, Tussi?“ Das war natürlich nur ein Scherz; selbstverständlich sagte ich nichts dergleichen! Dazu bin ich viel zu höflich. Tatsächlich beklagen sich viele (nicht nur ältere) Menschen, dass ein höflicher Umgang miteinander immer seltener wird. Für gutes Benehmen und gepflegte Manieren sei immer weniger Zeit und Platz in dieser hektischen Welt.
Werden starre „Höflichkeitsrituale“ abgelehnt?
Ein Wertewandel fand im Laufe der Generationen statt. Umfragen zeigen: Starre oberflächliche „Höflichkeitsrituale“ stoßen immer mehr auf Ablehnung. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es den meisten Menschen schlicht egal, wo man den Soßenlöffel nach dem Essen korrekt ablegt oder ob man eine Fliege zum Kent-Kragen tragen darf. (Ehrlich gesagt, mir auch.) Begonnen hat es in den 60er-Jahren! Die Differenzen waren da, nicht nur in Sachen Höflichkeit, in Geschmacks- oder Modefragen, sondern vor allem in politischen und gesellschaftlichen Ansichten. Ohne seine politische Dimensionen lässt sich dieser Wertewandel nicht verstehen. Der Geist der 68er wollte die Weitergabe der alten Wertvorstellungen unterbrechen. Denn die traditionellen bürgerlichen Tugenden wie z.B. Höflichkeit, Gehorsam, Fleiß etc., wurden von Generation zu Generation in einem mehr oder weniger autoritären Erziehungsstil übertragen. Doch hier wurde die Basis für willenlosem Gehorsam und bedingungslosem Autoritätsdenken gelegt – beides Voraussetzung für die Schrecken der nationalsozialisten Diktatur; beides Voraussetzung für missgeleiteten Patriotismus, dem in Vietnam zehntausende amerikanische Soldaten zum Opfer fielen. Neue Wertvorstellungen sollten dies in Zukunft verhindern und eine neue Gesellschaft aufbauen. Rund vierzig Jahre später ist unsere Gesellschaft noch komplexer und vielschichtiger geworden. Es existiert eine Vielzahl von Mikrokosmen wie z.B. Berufssparten, kulturellen Cliquen, ethnischen Gruppen, etc., die ihren eigenen Verhaltenskodex und damit auch ihre eigene Art der Höflichkeit besitzen. Anthropologen nennen das eine Tribalisierung, eine zunehmende Aufsplitterung der Gesellschaft in Stämme. Dazu kommt auch, dass im Zeitalter von Computer und Multimedia die zwischenmenschlichen Kontakte verkümmern. Vereinfacht ausgedrückt: Es fehlen die Gelegenheiten, wo man den höflichen Umgang miteinander praktizieren könnte. SMS, Bankomaten, Selbstbedienungs-Supermärkte, Online-Kaufhäuser, E-Banking, Fast-Food-Lokale etc. erweisen sich wortwörtlich als Kommunikationskiller.
Weibliche Gleichberechtigung versus männliche Höflichkeit?
Und auch wenn die real existierende Gesellschaftsform, in der wir leben, nach wie vor patriarchalisch ausgerichtet ist: Sie beginnt langsam zu bröckeln. Frauen erkämpfen sich erfolgreich eine Männerdomäne nach der anderen und werden immer selbstbewusster. Es ist ein zähflüssiger Prozess, doch die Gleichberechtigung ist nicht aufzuhalten. So empfinden es viele Frauen als Widerspruch, Gleichbehandlung zu fordern und zur selben Zeit zu erwarten, dass die Männer ihnen in den Mantel helfen oder die Türe aufhalten. Und die armen Herren der Schöpfung? Sie reagieren auf das Fehlen von traditionellen Höflichkeitsritualen mit Verunsicherung, nach dem Motto: Lieber ein bisschen weniger höflich als einen Fehler zu machen und damit komplett unhöflich zu sein.
Ist Höflichkeit wieder gefragt?
Gleichzeitig tritt das Phänomen ein, dass gutes Benehmen und Höflichkeit wieder hoch im Kurs stehen. Dicke Etiketten-Ratgeber füllen die Schaufenster der Buchhandlungen, Volkshochschulkurse sind überrannt, und Benimm-Gurus wie Tanzschulenbesitzer Thomas Schäfer-Elmayer erfreuen sich mit ihren Weisheiten höchster Beliebtheit. Eine Umfrage des renommierten deutschen Marktforschungsinstitutes TNS Emnid gibt Auskunft über die Top-Ten des guten Benehmens: An erster Stelle mit 97,8 Prozent steht sowohl für Frauen als auch Männer der Wunsch, in einem Gespräch ungestört ausreden zu dürfen und nicht unterbrochen zu werden. Die weitere Reihenfolge: Hilfsbereitschaft (96 Prozent), gute Tischsitten (95,4 Prozent), eine dem Anlass gemäße Kleidung (81 Prozent), Blumen bei einer Einladung (78,4 Prozent), Türen für andere aufhalten (75,2 Prozent) und korrekte Aussprache des Namens (68,2 Prozent). Die Statistik für Österreich würde vermutlich nicht wesentlich anders ausfallen.
Braucht eine multikulturelle Gesellschaft ein Mindestmaß an Höflichkeit?
Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch erscheint, ist keiner. Denn gerade in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft kann ein reibungsloses Miteinander nur dann funktionieren, wenn es einen kleinsten gemeinsamen Nenner gibt: das Mindestmaß an Höflichkeit! So ist es geradezu (über-)lebensnotwendig, beim Betreten eines Raumes nicht einfach nur zu grunzen, sondern freundlich zu grüßen. Und ein artiges Bitte und Danke verhindert des Öfteren eine körperliche Auseinandersetzung, wenn man etwas haben will. Die Schriftstellerin Cora Stephan formulierte es in ihrem 1995 erschienenen Buch „Neue deutsche Etikette“ so: „(Benimmregeln) sind das zivilisatorische Minimum, sozusagen, auf das Menschen unterschiedlichster Herkunft, mit verschiedenen überzeugungen, Religionen, Pässen, Hautfarben und kulturellen Vorgaben ausgestattet, zurückgreifen können. Sie sind eine lingua franca einer multikulturellen Gesellschaft“. Aber die starren Höflichkeitsrituale, die im Mittelalter den Edelmann am Königshof vom tumben Bauern unterscheiden sollte und die Adolph Freiherr von Knigge (1752-1796) vor rund 200 Jahren zu notieren begann, weichen immer mehr „adressatengerechten“ Benimmregeln. Der junggebliebene Primar wird sich auf dem Jahreskongress der Internisten anders verhalten als auf der Techno-Fete seiner Freundin. Der österreichische Bauarbeiter muss mit dem Juniorchef, Absolvent der Wirtschaftsuni, genau so zu Recht kommen wie mit seinem türkischen Kollegen. Richtiges Benehmen ist heutzutage schwieriger denn je. Um in den vielen Stämmen, den vielen Cliquen und Gruppen, bestehen zu können, ist es unumgänglich, die Verhaltensregeln des jeweiligen gesellschaftlichen Mikrokosmos zu beherrschen. Das macht den Umgang zwischen den Geschlechtern auch nicht unbedingt leichter. Es hat aber auch sein Gutes: Je weniger Verhaltensnormen, desto weniger Regelverstöße! Am Besten ist, man (und Mann) verlässt sich auf seinen Hausverstand. Und wenn man sich mal daneben benimmt, ist das oft halb so schlimm. Die Grenzen zwischen gutem und schlechtem Benehmen sind fließend. Wenn Robbie Williams auf der Bühne vor hunderttausenden Zusehern ausführlich die Oberweite eines weiblichen Fans begrapscht, schreit keiner: „Du Rüpel“, sondern alle finden, er sei – ich zitiere meine 20jährige Nichte – eine coole Sau! Sollten Sie Selbiges in der Wiener U-Bahn ausprobieren … nun, ich wette, das wird hundertprozentig als unhöflich empfunden! Ich rate Ihnen davon ab.
Autor:in:
Zur Person Mag. Claudia Ohnesorg-Csik studierte Handelswissenschaften an der WU Wien. Ist Mutter von zwei Töchtern. Sie ist für die Online Redaktion zuständig und verantwortet die Social Media Präsenz. Aktuelle…