Egoistisch und einzelgängerisch, so lauten die gängigen Klischees über geschwisterlose Kinder. Was ist an ihnen dran?
Im Jahr 2017 lebte in Österreich in der Hälfte aller Familien nur ein Kind (Statistik Austria). Nicht alle werden Einzelkinder bleiben, sondern noch Geschwister bekommen oder mit Stiefgeschwistern in Patchworkfamilien zusammenleben. Zweikind-Familien sind immer noch das angestrebte Ideal, während Familien mit drei Kindern oder mehr zur Minderheit gehören. Glaubt man dem deutschen Geschwisterforscher Harmut Kasten (siehe Buchtipp), dann unterscheiden sich Einzelkinder von Sprösslingen aus kinderreichen Familien nur wenig.
WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE
Die Forschungslage zu Einzelkindern ist dürftig. Doch die Ergebnisse, die es gibt, widersprechen den stereotypen Bildern und betonen die positiven Entwicklungschancen. Einzelkinder entwickeln sich nicht anders als Kinder mit Geschwistern, sie werden ebenso extrovertierte und sozial umgängliche Erwachsene. Ähnlich wie viele Erstgeborene übernehmen sie gerne Führungsaufgaben und sind oft selbstzentriert, d.h. sie können sich gut selbst beschäftigen, ohne dabei zwangsläufig egoistisch zu sein. Viele Einzelkinder finden sich oft in einem finanziell sicheren Umfeld wieder, in dem sie gefördert werden – allerdings nicht nur, man denke an armutsgefährdete Alleinerziehende mit Kind.
DAS ALLTAGSLEBEN
Das Leben von Einzelkindern und Geschwisterkindern gleicht sich tendenziell immer mehr an. Die Tage sind durchstrukturiert mit Kindergarten, Schule und individuellen, altersentsprechenden Nachmittagsaktivitäten. Trotz allem unterscheiden sich die Alltagserfahrungen: Geschwisterkinder haben mehr Übungsfläche, was Aushandlungsprozesse untereinander und den Umgang mit Konfliktsituationen anbelangt. Für die Eltern bedeutet das, ähnliche Lernerfahrungen für Einzelkinder zu ermöglichen. In intensiven Freundschaften können Gleichaltrige zu „Sparring Partnern“ werden. Was das Erleben von Mitgefühl und Erlernen von Hilfsbereitschaft anlangt, sind nicht unbedingt Geschwister, sondern das emotionale Vorleben der Eltern vonnöten.
DIE ENTWICKLUNG
Eltern sind lange die wichtigsten Bezugspersonen, das gilt für Einzelkinder genauso wie für Geschwisterkinder. Doch für Einzelkinder stellt sich die Lage möglicherweise anstrengender dar, vor allem bei „Helikopter“-Eltern, die um ein Kind kreisen. Auch Konflikte zwischen den Eltern können für Einzelkinder dramatischer sein, da keine Geschwister da sind, um sich zu verbünden. Zusätzlich sind die Eltern in Einzelkind-Familien in der überzahl: manchmal kein leichter Stand für den Nachwuchs. Abnabelungsprozesse können in Ein-Kind-Familien schwieriger sein, das hängt jedoch ganz von der Haltung der Eltern ab.
DIE SICHT DER KINDER
Befragt man Einzelkinder, wie sie ihre Familienkonstellation erleben, sehen sie diese durchwegs positiv und nennen häufig die Vorteile ihrer Lebenssituation. Sie sind froh, verwöhnt zu werden und Sachen alleine besitzen zu können. Sie schätzen es, dass es niemanden gibt, der sie nervt und dass sie die Sachen tun können, die sie möchten. Manche bedauern jedoch, dass es in der Familie zu wenig Schwung und manchmal Langeweile gibt und wünschen sich Geschwister beim Verreisen.
GEDANKEN
Junge Erwachsene sprechen im Nachhinein reflektiert über ihr Aufwachsen ohne Geschwister. Sie hatten nicht unter Geschwisterrivalität zu leiden und Vergnügen daran, viel Zeit für sich alleine zu haben, ohne gestört zu werden. Sie empfinden es als Privileg, so ausschließlich geliebt, umsorgt und versorgt worden zu sein und eine intensive Beziehung zu den Eltern aufgebaut zu haben. Neben all den positiven Einschätzungen räumen sie ein, dass ihnen Geschwister als Gefährten fehlen. Außerdem sind sie beunruhigt, wenn sie an das Älterwerden der Eltern denken und dass sie diese Situation nicht mit Geschwistern teilen können.
GRÜNDE
Nicht alle Eltern von Einzelkindern haben sich bewusst oder „freiwillig“ gegen Geschwister entschieden. Manchmal werden sich die Partner über ein zweites Kind nicht einig und manchmal will es einfach kein weiteres Mal mehr klappen. Aber wie das „Große Buch der Familien“ sagt: „Man kann auch schon zu zweit eine Familie sein“.
Kerstin (40) mit Partner Georg (39) und Vinzent (3 Monate): „Ich bin ein Einzelkind, aber mit meinen Cousins und Cousinen, die im Nachbarhaus wohnten, aufgewachsen. Meine Mutter hatte selbst zehn Geschwister, diese Erfahrung wollte sie für ihr Kind nicht. Wir sind erst vor kurzem Eltern geworden. Da ich selbst ohne Geschwister glücklich war und bin, wünschen wir uns das auch für unseren Sohn.“
BUCHTIPPS:
- Einzelkinder und ihre Familien
Von Hartmut Kasten
Hogrefe Verlag
2007
ISBN 978-3801720384
€ 19,95 - Du gehörst dazu: Das große Buch der Familien
Von Mary Hoffman
Ab drei Jahren
Fischer Sauerländer Verlag
ISBN 978-3737364058
€ 14,90
Autor:in:
Dr. Doris Rosenlechner-Urbanek
Zur Person: Dr. Doris Rosenlechner-Urbanek lebt und arbeitet in Salzburg als Sozialwissenschaftlerin und freie Redakteurin. Aktuelle Artikel