Der prominente dänische Familientherapeut und Bestsellerautor Jesper Juul ist im Juli 2019 im Alter von 71 Jahren gestorben.
Sein Buch „Leitwölfe sein“, so der metaphorische Titel, lässt tief in Juuls Erfahrungsschatz blicken. 40 Jahre Praxis zeigen auf, dass Familien sich verändern. Doch eine Tatsache bleibt unverrückbar: Kinder brauchen Führung!
Was ist die größte Erziehungsfalle?
Wie schon in vorangegangenen Büchern zeichnet Jesper Juul auch in „Leitwölfe sein“ ein präzises Bild der elterlichen Rolle heute und der damit verbundenen Schwierigkeiten. Waren Eltern, vor allem Väter, früher noch unantastbare Autoritätspersonen, so geben sie sich nun lieber als Partner ihrer Kinder. Das ist prinzipiell auch gut so, weil Kinder keine untergebenen Befehlsempfänger mehr sind, die im Alltag „nebenher laufen“. Moderne Eltern wünschen sich Beziehungen, die von Liebe und Respekt geprägt sind. Bei diesem Vorhaben verirren sie sich aber leicht. Juul schildert Familiensituationen, in denen sich die Rollen umgekehrt haben und Kinder das Sagen haben. Eltern wollen bei ihren Kindern beliebt sein. „Wir sehen heute viele Familien, in denen die Eltern so große Angst davor haben, ihren Kindern zu schaden oder sie zu verletzen, dass die Kinder zu Leitwölfen werden. Und die Eltern streifen orientierungslos durch den Wald.“
Brauchen Kinder Führung?
„Woher wissen wir, dass Kinder Führung brauchen?“, leitet Juul das erste Kapitel ein. „Aus Erfahrung!“, lautet die Antwort. „Kindern, die ohne Führung aufwachsen, geht es nicht gut. Sie brauchen qualifizierte Anleitung, um sich an die jeweilige Kultur anpassen zu können.“ Ein moderner Führungsstil sei aber nicht wie früher von einer Subjekt-Objekt-Beziehung – mit dem Kind als Objekt – geprägt, sondern als Subjekt-Subjekt-Beziehung definiert. Damit meint Juul, dass jedem Mitglied des Rudels die gleiche Würde zugestanden wird. „Gleichwürdigkeit“ sei entscheidend für die Qualität von Beziehungen. Auf dieser Basis beschreibt er Führung als proaktiv, empathisch, flexibel, dialogbasiert und fürsorglich.
Ein Beispiel aus „Leitwölfe sein“
Max ist drei Jahre alt. Sein Vater fordert ihn zum Zähneputzen auf. Max will aber nicht die Zähne putzen. Sein Vater fragt: „Weißt du, warum du nicht willst?“ Max antwortet: „Nein, ich will einfach nicht!“ Vater: „Schade, ich würde es wirklich gerne wissen!“
Max bleibt dabei, er weiß es nicht. Der Vater bittet ihn, weiter darüber nachzudenken und ihm dann Bescheid zu geben, wenn er es weiß, aber in der Zwischenzeit die Zähne zu putzen. Als Max weiter protestiert: „Ich will aber nicht!“, antwortet der Vater: „Ja, das habe ich gehört. Aber solange du ein Kind bist, bin ich verantwortlich für deine Gesundheit. Also los, bringen wir es hinter uns!“ Max antwortet: „Okay, aber pass auf, dass du mir nicht weh tust!“
Juul erläutert hier auf einfühlsame Weise, wie Eltern ihre Verantwortung wahrnehmen, ohne das Kind dabei zu überfahren. Im Dialog wird Max ernst genommen, seine Würde nicht verletzt. Für den „Leitwolf“ geht es darum, Bedürfnisse wahrzunehmen und die Richtung zu weisen.
Führung und Vertrauen?
Was in diesem Beispiel noch zum Ausdruck kommt: Der Vater geht davon aus, dass Max einen guten Grund für sein Verhalten hat. Leitwölfe vermitteln ihren Kindern die Botschaft: „Ich vertraue dir, dass du dein Bestmögliches tust, um zu kooperieren, um für die Familie von Wert zu sein, und sollte es mir nicht gelingen, das in deinem Verhalten zu erkennen, werde ich dich um Hilfe und Klärung bitten“, so Juul.
Selbst beim schwierigen Thema „Lügen“ rät er, Kindern Vertrauen zu schenken, um dann die Zusammenhänge zu erforschen!
Klare und vertrauensvolle Führung ist entscheidend für eine gesunde Entwicklung: „Kinder brauchen Eltern als Leitwölfe, damit sie sich im Dickicht des Lebens zurechtfinden“, weiß Juul. Aber auch Eltern brauchen dann und wann den Rat eines erfahrenen Leitwolfes, um im Familiendschungel nicht die Orientierung zu verlieren. Als Therapeut, Berater und Autor von 25 Büchern steht Jesper Juul nun seit 40 Jahren jenen zur Seite, die offen für einen respektvollen Umgang mit Kindern sind. Juul macht auf die möglichen Verstrickungen aufmerksam, die Erwachsene in ihrer Kindheit erlebt haben, und erklärt auf wertfreie Art und Weise, welchen Einfluss diese auf das eigene Erziehungsverhalten haben können. Nicht jeder findet an Jesper Juuls Ansichten und Ausdrucksweise Gefallen, auch lassen manche seiner Beispiele noch Fragen offen. Dennoch: „Leitwölfe sein“ liest sich wie die Quintessenz seines reichen Wissens und zählt somit zu den derzeit wichtigsten pädagogischen Büchern.
Buchtipps:
LEITWÖLFE SEIN
Liebevolle Führung in der Familie von Jesper Juul
Beltz Verlag
ISBN 978-3-407-86404-8
Euro 17,50
NEIN AUS LIEBE
Klare Eltern – starke Kinder
von Jesper Juul
Beltz Verlag
ISBN 978-3-407-22940-3 Euro 10,30
Autor:in:
Zur Person Mag. Petra Autherid ist ausgebildete Kindergartenpädagogin und studierte Erziehungswissenschaften. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit arbeitet sie in einem Montessori-Kindergarten. Aktuelle Artikel