Wie wir liebevoll Grenzen setzen können
Aus Angst, dem Kind mit einer Grenze zu schaden, scheuen sich Erwachsene oft vor einer deutlichen Aussage. Dahinter mag die Befürchtung stehen, das Kind zu beschämen, seinen Willen zu brechen oder gar seine Liebe zu verlieren. Aber Grenzen gehören zum Leben und können uns sogar dabei helfen, Nähe zu schaffen. Fehlen klare Botschaften, müssen sie von Kindern ständig auf Neue „erfragt“ werden – etwa durch Quengeln, Unterbrechen, Schlagen, das Brechen von Regeln …
Die folgenden acht Beispiele können Anregungen für ein „Stopp“ ohne schlechtes Gewissen, dafür aber mit viel Liebe geben.
1. Die eigenen Grenzen spüren
Zuallererst gilt es die eigenen Grenzen und Bedürfnisse zu ergründen. Möchte ich abends nach der Arbeit noch stundenlang mit Barbies spielen? Oder mache ich das, weil mein Kind es so will? Zu kommunizieren, was ich als Elternteil brauche, ist eine wichtige Botschaft und hat Vorbildwirkung.
Eine Antwort könnte lauten: „Ich sehe, du hast dich schon darauf gefreut, mit mir zu spielen. Nun brauche ich aber eine Pause für mich allein. Ich könnte dir danach noch zwei Bücher vorlesen. Das tue ich lieber, als mit Puppen zu spielen.“ Das Kind kann so das Bedürfnis nach Nähe mit Mama oder Papa stillen und erfährt gleichzeitig etwas über seine Eltern: Puppenspielen ist kein Bedürfnis von Erwachsenen, und meine Eltern sind in dieser Sache ehrlich zu mir!
2. Die Bedürfnisse von Kindern wahrnehmen
Kinder halten sich immer mehr in Umgebungen auf, in denen sie sich anpassen müssen und ihre kindlichen Bedürfnisse nicht ausleben können, wie etwa im Kaffeehaus, im Straßenverkehr oder fest angeschnallt im Auto.
Dadurch geraten sie in ein Dilemma: Dessen ungeachtet drängen schließlich entwicklungsbedingte Bedürfnisse nach außen, weil sie für die gesunde körperliche, geistige und emotionale Entfaltung des Kindes notwendig sind. Dazu gehört etwa das Bedürfnis nach Bewegung, nach vielfältigen Sinneserfahrungen, oder das Spielen mit anderen Kindern.
Gehen wir zum Beispiel mit einem kleinen Kind in ein Restaurant, kann es dort nicht spontan sein Bedürfnis nach Bewegung ausleben. Fängt es an, wild herumzulaufen, wird man es stoppen müssen. Dabei ist es für das Kind wertvoll zu hören: „Ich sehe, dass du dich jetzt gerne bewegen möchtest. Hier geht das leider nicht, ich suche mit dir eine Möglichkeit, wo du das machen kannst.“ Das Kind lernt anhand dieser Grenze, auf andere Rücksicht zu nehmen, bekommt aber gleichzeitig Verständnis für sein Bedürfnis.
3. In Kontakt mit dem Kind sein
Kinder sind durch und durch sinnliche Wesen. Sie nehmen auf mehreren „Kanälen“ wahr, was um sie herum passiert. Dadurch sind sie auch leicht ablenkbar. Wenn wir einem Kind von Weitem eine Grenze zurufen, dann ist die Chance, dass diese Botschaft ankommt, recht gering. Gehe ich aber hin zum Kind, berühre es vielleicht am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, und sage dann erst: „Ich lasse nicht zu, dass du mit Sand auf andere Kinder wirfst!“, begebe ich mich auf eine Ebene mit dem Kind und vermittle gleichzeitig, dass mir die Angelegenheit wichtig genug ist, um mich höchstpersönlich dafür einzusetzen.
4. Diskusionen vermeiden
Kinder von heute sind bisweilen geradezu Meister der endlosen Grenzverhandlungen. Dass sie herausfinden wollen, wie wir Erwachsenen „ticken“ und welche Handlungsspielräume wir ermöglichen, ist nur natürlich.
So zielt beispielsweise die Frage: „Warum darf ich nicht noch ein Stofftier haben?“ nicht auf eine Begründung der Elternentscheidung ab, sondern drückt vielmehr den Frust darüber aus, dass das Kind das Stofftier nun nicht bekommt. Mit der Antwort: „Ich verstehe, dass dir schwerfällt weiterzugehen, weil dir die Stofftiere so gut gefallen. Aber ich möchte keines mehr kaufen!“ zeigt man Verständnis für die kindlichen Gefühle und vermittelt klar: „Hier ist meine Grenze!“
5. Den Entwicklungsstand des Kindes im Blick behalten
In verbalen Auseinandersetzungen mit Kindern vergessen wir leicht ihr Entwicklungsalter. Ein fünfjähriges Kind kann etwa noch nicht entscheiden, wann es abends von der Freundin abgeholt werden soll. Der Wunsch, mit seinem Kind auf Augenhöhe zu kommunizieren, führt manchmal dazu, dass Eltern ihrem Kind derartige Entscheidungen überlassen.
Aber Kinder können Zeiträume noch nicht überblicken und schon gar nicht abschätzen, was es alles nach sich zieht, wenn es abends zu spät wird. Geben wir einen klaren Rahmen vor, ist das Kind innerhalb dessen frei, altersgemäße Erfahrungen zu sammeln.
6. Notwendige Grenzen ohne Umschweife setzen
Kinder mit Tricks und Angeboten geschickt abzulenken, halten viele für eine sanfte Strategie.
Ein Beispiel: Ein sechsjähriges Kind schlägt Mama immer wieder auf den Po, weil sie sich gerade mit der Nachbarin unterhält und es Mamas Aufmerksamkeit will. Mama versucht es davon abzubringen: „Ich komme gleich, schau dir doch inzwischen ein Buch an! Nein? Dann spiel doch Playmobil! Auch nicht? Wie wäre es mit Zeichnen?“ Ein deutliches: „Stopp! Das will ich nicht. Ich komme ganz bestimmt zu dir, wenn ich fertig bin“ ist völlig ausreichend. Kinder sind sogar viel kompetenter als wir beim Entwickeln neuer Spielideen!
7. Die Sache mit den Konsequenzen
Kinder fordern uns heraus. Das tun sie nicht, um uns zu nerven, sondern sie „überprüfen“ so das Verhalten von Erwachsenen: Was lassen sie zu, was lehnen sie ab? Was geschieht, wenn ich auf der Straße plötzlich wegrenne? Hat mich die Person trotzdem noch lieb, wenn ich so was mache?
Konsequenzen ergeben sich nicht immer auf natürliche Weise, beispielsweise indem sich die Schuhe mit Wasser füllen, wenn das Kind in eine tiefe Lacke steigt. Manchmal liegt es an uns, Konsequenzen als Reaktion auf das Verhalten des Kindes zu setzen: „Ich habe Angst um dich, wenn du auf der Straße davonläufst, darum nehme ich dich jetzt lieber an der Hand!“ Wenn wir mit Kindern über Konsequenzen sprechen, dann sollten diese nicht „aus der Luft gegriffen“ sein, wie z. B.: „Wenn du nicht damit aufhörst, kommt der Nikolaus nicht zu dir!“ Konstruierte Drohungen wie diese verunsichern das Kind und lassen den logischen Zusammenhang vermissen.
8. Schmerzliche Gefühle gemeinsam aushalten
Ein „Nein“ zu hören kann für ein Kind sehr schmerzlich sein. Oft kommt noch alter, unverarbeiteter Schmerz dazu. Aus kindlicher Sicht ist es nur gesund, diesen herauszuschreien und -weinen.
Erwachsene werden dabei leicht unsicher, weil sie glauben, etwas falsch gemacht zu haben. Oder sie reagieren gereizt oder weisen das Kind zurecht: „Jetzt siehst du, was du angestellt hast!“ oder „Ich habe es dir ja gleich gesagt …“ oder „Warum weinst du? Ist doch nichts passiert!“ Dadurch wird sich ein Kind allein gelassen vorkommen, es wird nicht sagen: „Du hast ja recht!“
Stehen wir ihm aber in so einem Moment bei, vielleicht mit den Worten: „Das ist jetzt unangenehm für dich. Ich verstehe, dass du dich ärgerst“, dann vermitteln wir Respekt für seine Gefühle und unser Vertrauen in seine Fähigkeiten, die Situation gut zu überstehen. Auch wenn es manchmal nicht so scheint, Kinder wollen mit uns zusammenarbeiten.
Damit dies gelingen kann, ist es wichtig, in Beziehung zu bleiben. Es geht nicht darum, im Konflikt eine elterliche Machtposition zu verteidigen, denn dann entfernen wir uns vom Kind. Behalten wir aber die Führung und die Verantwortung für die Dinge, die das Kind (noch) nicht bestimmen kann, dann ist ein Nein „oft die liebevollste Antwort, die wir geben können“ (Jesper Juul).
Buchtipp
NEIN AUS LIEBE
Klare Eltern – starke Kinder
Von Jesper Juul
Beltz-Verlag 2014
ISBN 978-3-407-22940-3
Autor:in:
Zur Person Mag. Petra Autherid ist ausgebildete Kindergartenpädagogin und studierte Erziehungswissenschaften. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit arbeitet sie in einem Montessori-Kindergarten. Aktuelle Artikel