Aktuelle Forschungen werfen ein neues Licht auf die ambivalente Persönlichkeit der großen italienischen Ärztin Maria Montessori. Die Palette der Zuschreibungen reicht von „mutige Kämpferin für eine kindgerechte Pädagogik“ bis zu „Anhängerin des gefährlichen faschistischen Menschenbilds“. Was trifft nun tatsächlich zu?
Im Frühling 2024 kam ein Film in die Kinos, der nachzeichnet, wie die berühmte Medizinerin Maria Montessori mutig ihre eigene Pädagogik etablierte. Zeitgleich erschien das medial viel diskutierte Buch „Der lange Schatten Maria Montessoris“ von Sabine Seichter. Darin wird die dunkle, die faschistische Seite Montessoris thematisiert.
Doch wer war die Italienerin, über die es so viele Meinungen gibt, wirklich? Kaum ein Kinder- oder Klassenzimmer, in dem nicht Montessori-inspirierte Lernmaterialien Einzug gehalten haben. Und über all dem stehen berühmte Worte, die Generationen von Erziehenden beeinflusst haben: „Hilf dem Kind, es selbst zu tun.“ Sie stammen von der noch berühmteren italienischen Pädagogin Maria Montessori.
Eine bedeutende Persönlichkeit
Geboren in wohlhabenden Verhältnissen, wurde Maria Montessori in einer Zeit groß, in der das junge Königreich Italien, gestärkt durch die Triumphe der Unabhängigkeitskriege, vor Selbstbewusstsein strotzte. Vor allem im Norden des Landes trieben Neugier, Kühnheit und Tatendrang ganz im Sinne des Futurismus wirtschaftliche Entwicklungen voran und ebneten die Bahn für moderne technische Errungenschaften.
Im frühen 20. Jahrhundert wurde der verarmenden Gesellschaft durch die Einführung einer staatlichen Sozialversicherung und einer Arbeitslosenversicherung unter die Arme gegriffen. Maria Montessori und ihre Familie hingegen blieben vom Schicksal der ärmeren Gesellschaftsschicht unberührt. So war es der jungen Frau möglich, eigenen Interessen nachzugehen. Als eine der ersten Frauen Italiens wurde sie zum Medizinstudium zugelassen. Besonders ihre letzten Studienjahre, in denen sie sich auf die Kinderheilkunde speziell in psychiatrischen Kliniken konzentrierte, prägten sie. Eine Idee reifte in Maria Montessori heran.
Der Erziehungsbegriff um 1900
In der Zeit um 1900 wurde Erziehung als lebenslanger Lernprozess oder als Anleitung zum Erlangen von Perfektionismus auf möglichst vielen Ebenen verstanden.
Vor diesem Hintergrund erscheint Erziehung als Kontrollversuch, der in vielen Fällen unweigerlich zu Frustration auf beiden Seiten – auf der des Erziehenden wie auf der des Kindes – führte. Immer lauter wurde, so Buchautorin Sabine Seichter, der Ruf nach einer neuen Erziehung, einem „neuen Kind“.
Die Optimierung des Menschen sollte, und darauf beruhen Ansätze der Montessoripädagogik, einer intrinsischen, also innerlichen, Motivation folgen. Das Kind muss demnach seine Weiterentwicklung aus eigenem Antrieb heraus wollen, steuern und anleiten dürfen. Das ist ein Gedanke, der unserem modernen Erziehungsbegriff entspricht und die kreative Auseinandersetzung des Kindes mit seinem unmittelbaren Lebensumfeld fördert.
Doch gerade der kreative, gestalterische Aspekt war, Seichter zufolge, von Montessori eigentlich gar nicht gewollt. Vielmehr sei es der Medizinerin um die „Perfektionierung des Kindes“ gegangen – ein Begriff, der besonders heute, da menschliche Genmanipulation tatsächlich möglich ist, befremdlich wirkt.
Die Entwicklung der weltberühmten Fördermaterialien
Montessoris Auseinandersetzung mit den Kindern im heilpädagogischen Institut, das sie selbst als Direktorin leitete, entsprang die Idee zur Herstellung besonderer Fördermaterialien.
Die heute weltweit gefeierte vorbereitete Lernumgebung und die Fördermaterialien dienten zunächst vor allem dazu, diese Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen. All den ehrenhaften Absichten zum Trotz bezeichnete Montessori gerade ihre Schützlinge als „schädlich Degenerierte“ und setzte sich, unterstützt von Benito Mussolini, für die „Säuberung der Schulen für normale Kinder“ ein.
Mussolinis Anerkennung nutzte Maria Montessori, um ihre Popularität in ihrem Heimatland zu fördern. Dem Diktator und der Medizinerin gemein war die Überzeugung, dass nur eine bewusst gesteuerte Erziehung den perfekten Menschen, das perfekte Kind formen könne. Dabei müsse die „minderwertige menschliche Rasse“, müssten „Idioten und intellektuell sowie moralisch Schwachsinnige“, wie zu jenen Zeiten die allgemein gültige Bezeichnung für Menschen mit geistiger Behinderung lautete, von der „triumphierenden Rasse“, also den Menschen ohne mentale Einschränkungen, separiert und mit Nachdruck umerzogen werden.
Bis zu ihrem Tod 1952 widerrief sie ihre teils rassistischen und menschenverachtenden Ansichten nicht. Die Disziplin und die Ordnung, die den von Montessori entwickelten Materialien zugrunde liegen, stellen auch die wesentlichen Stützpfeiler ihrer Pädagogik dar. Diese Materialien sind klar strukturiert und zielen darauf ab, Kinder in ihrer Selbsttätigkeit zu fördern. Deshalb bieten sie die Möglichkeit zur Selbstkontrolle. Farben und Formen wurden von Montessori vorgegeben und entsprechen einem wiederkehrenden Muster.
Diese „innere Ordnung“ ist ein klares Prinzip der Montessoripädagogik, das sich durch sämtliche Lernmaterialien und geschaffenen Lernumgebungen zieht. Montessoris Fördermaterialien entsprechen dabei unserem Zeitgeist. Sie teilte sie in die Bereiche
- „Übungen des täglichen Lebens“,
- „Sinnesmaterialien“,
- „Sprachmaterialien“,
- „mathematische Materialien“
- und „Materialien zur kosmischen Erziehung“ ein.
Letztere sollen dem Kind einen Bezug zur Natur, zu anderen Menschen und zum Wissen über die Welt geben.
Die Aktualität der Lernmaterialien ist unumstritten. Einsetzbar sind die Übungen bereits ab dem Kindergartenalter. Die Ideen der Medizinerin wurden von Anhängern ihrer Pädagogik weiterentwickelt. Insbesondere ihr eigener, unehelicher Sohn Mario, zu dem sich Montessori aus Angst vor einem möglichen Ende ihrer Karriere erst spät bekannte, war ein großer Förderer und Denker und entwickelte zahlreiche pädagogische Materialien.
Lichtgestalt oder Faschistin?
Die Ansichten der Medizinerin überschatten ihre Arbeit. Immer wieder trennte sie klar zwischen „abnormalen“ und „normalen“ Kindern, dachte offen darüber nach, einen „neuen Menschen“ zu formen.
Ihre Vorstellungen von eiserner Disziplin der Kinder erinnern an die militärische Erziehung junger Soldaten. Viele Ansichten und Denkweisen der Medizinerin entsprechen jenen der faschistisch-nationalsozialistischen Zeit, in der sie gelebt und gewirkt hat, erläutert Seichter in ihrem Buch.
Freilich zeichnen Apostel der Montessoripädagogik heute ein ganz anderes, gar heldenhaftes Bild der berühmten Frau. Im aktuellen Kinofilm wird sie als Revoluzzerin gefeiert, die sich hingebungsvoll den Kindern, besonders denen mit Behinderung, widmet. Für diesen Ruf haben Montessori-Anhänger nach Ende des Nationalsozialismus hart gearbeitet.
Der „lange Schatten“, den das faschistische Gedankengut tatsächlich auf Maria Montessori wirft, trübt das Bild der Lichtgestalt einer scheinbar aufopferungsvollen Pädagogin. Ungeachtet dessen finden Montessori-Lernmaterialien in Klassen- und Kinderzimmern ihre Berechtigung.
Mit Bedacht ausgewählt und zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, können sie tatsächlich das Kind in der Erfahrung seiner Selbstwirksamkeit und Selbstständigkeit unterstützen. Dafür bedarf es jedoch Pädagoginnen und Pädagogen, die sich – anders als von Maria Montessori ursprünglich gedacht – als Wegbegleiter, nicht als Erziehende verstehen, Individualität zulassen und ohne Zwang und Druck das selbstständige Lernen fördern.
„Hilf dem Kind, es selbst zu tun“ – das ist womöglich das wahrhaftigste und wichtigste Zitat, das Maria Montessori uns mitgeben konnte.
Eine kritische und sehr wissenschaftlich formulierte Abhandlung von Sabine Seichter, Universitätsprofessorin der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, zu Maria Montessori. Darin werden viele Äußerungen der Medizinerin unter einem neuen, oftmals negativen Blickwinkel betrachtet.
Autor:in:
Zur Person Marion Brugger ist ausgebildete Kindergartenpädagogin, Horterzieherin und Volksschullehrerin. Außerdem ist sie Verfasserin eines Buches zum Thema Begabungsförderung. Sie hat eine Tochter und unterrichtet an einer Volksschule in Wien.…