„Das Vertrauen eines Kindes zu gewinnen ist vielleicht eines der größten Geschenke, die das Leben zu bieten hat“, sagte der bekannte dänische Erziehungsexperte Jesper Juul und meinte damit nicht nur leibliche Kinder, sondern auch Stiefkinder. Er meinte die ganze Palette an Familie, die es in unserer Gesellschaft gibt – und die ist breit, wie Alexandra Maxeiner in ihrem Bilderbuch „Alles Familie!“ veranschaulicht. Da betrachten wir Großfamilien und Kleinfamilien, friedlich getrennte Eltern und weniger friedlich getrennte, Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien. Waisenkinder und Pflegekinder, Adoptivkinder und Wahlverwandtschaft.
Die Familie von Jakob ist eine Patchworkfamilie mit zahlreichen Verästelungen, Neuzugängen und „Altbeständen“. Und sie kuschelt unter einer riesigen, kunterbunten, heimeligen Decke aus kleinen Stoffteilen: einer Patchworkdecke.
Zwischen Ideal, Realität und falschen Vorstellungen
Diese Buntheit ändert wenig daran, dass wir immer noch am gesellschaftlich geprägten „Idealbild“ der klassischen Familie, bestehend aus Mutter, Vater und Kind(ern) hängen, weiß die Tiroler Psychologin und Leiterin von RAINBOWS, Barbara Baumgartner. Mit der Realität hat dieses Bild freilich wenig zu tun. Die erfahrene Kinder-, Jugend- und Familienpsychologin berichtet, dass fast jedes zweite Kind in einer anderen familiären Struktur aufwächst.
Die Forschung hat dies erkannt: Hat man einige Jahrzehnte lang nur zu Nachteilen von Trennungen und Abweichungen von der „Standardfamilie“ geforscht, so weiß man heute, dass diese stark negativen Ergebnisse den tatsächlichen Umständen in Familien nicht gerecht werden. Baumgartner selbst wünscht sich, dass weniger gewertet wird: „Traditionelles Familienleben war nicht immer nur schön und idyllisch, vor allem die finanzielle Abhängigkeit der Frau vom Ehemann war eine Scheidungsbremse. Dies hat sich erfreulicherweise geändert, und Hauptfaktor für das Gelingen von Familie ist, wie glücklich beide Eltern in ihrem Leben sind. Glückliche, zufriedene Eltern haben meist auch glücklichere Kinder„, bringt Baumgartner wichtige Fakten auf den Punkt.
Dass einem dieses Geschenk des Vertrauens, das Geschenk einer glücklichen Familie, wie Jesper Juul schrieb, nicht einfach in den Schoß fällt, sondern es mitunter Jahre dauert, um sich dieses Ergebnis zu erarbeiten, ist nur eine Seite der Medaille. Wenn Zeit und Energie in „neue“ und „alte“ Familie investiert werden, dann bedeutet dies auch, dass Bande wachsen können, dauerhafte Beziehungen entstehen, die für alle Seiten glücklich und erfüllend sind. Der wohl wesentlichste Schlüssel dafür ist Kommunikation, das aufmerksame, zurückhaltende, aber konsequente Gespräch, Präsenz und viel Geduld. Das Zusammenwachsen einer neuen Familie kann einige Jahre in Anspruch nehmen.
Barbara Baumgartner plädiert ebenfalls für Aufmerksamkeit und behutsame, aber klare Gespräche: „Wenn Kinder von einer Trennung erfahren, dann ist das immer erst einmal ein Schock, auch wenn die aktuelle Familiensituation möglicherweise sehr angespannt und das Klima kein angenehmes mehr war. Kinder sind nicht am gleichen Wissenstand wie ihre Eltern und wollen, dass die Familie zusammenbleibt“.
Damit aus dieser völlig normalen Phase des Schocks kein Trauma wird, gilt es, in der Krise auf einiges zu achten, dann ist die Situation gut bewältigbar. „Die Kinder müssen nachdrücklich vermittelt bekommen, dass sich die Eltern nur voneinander trennen, nicht vom Kind. Eine Partnerschaft kann man beenden, Eltern bleibt man ein Leben lang. Das verlangt von Eltern viel Reife und Größe, vor allem, wenn die Trennung nicht harmonisch verlaufen ist: Dem Kind muss bewusst sein, dass es weiterhin beide Elternteile lieben darf und von beiden geliebt wird.“
Gefühle wie Trauer, Angst, Schuld und Wut treten je nach Alter der Kinder in unterschiedlicher Intensität auf, in RAINBOWS-Gruppen hilft man ihnen, mit diesen Emotionen umzugehen, sie zuzulassen und zu verarbeiten. Hilfe gesucht werden sollte auch, wenn körperliche Symptome wie Schlaflosigkeit, Bauchweh und Kopfschmerzen auftreten und auf seelische Ursachen schließen lassen.
Was geht, was bleibt?
Kinder brauchen Zeit zu lernen, woran sie auch weiterhin festhalten können (an der Liebe zu beiden Eltern etwa) und was sich in Zukunft ändern wird: das gemeinsame Wohnen, die gemeinsamen Urlaube und vieles mehr.
Wenn die eigene Trauer abgeschlossen ist, können sich Kinder auch wieder auf Neues einlassen. Viele gehen ohnehin offen auf neue Situationen, auf andere Menschen zu. Wichtig ist, dass auch in Patchworkfamilien die leiblichen Eltern primäre Ansprechpersonen für ihre Kinder bleiben und sie diesen auch „Exklusivzeit“ zugestehen. Gerade wenn eine Großfamilie entsteht, braucht es die Aufmerksamkeit, das Vier-Augen-Gespräch, die Unternehmung zu zweit oder zu dritt. Bonuseltern werden im besten Fall liebevolle, zugewandte Bezugspersonen, die Erziehungsverantwortung bleibt für Barbara Baumgartner aber in erster Linie bei den leiblichen Eltern.
Regelmäßige Gesprächsrunden, in denen sich alle Familienmitglieder in Hinblick auf ihre momentane Befindlichkeit artikulieren dürfen, aber nicht müssen, sind wichtig. Das kann anfangs mühsam sein, mittelfristig aber ein Hilfsmittel dafür, dass sich niemand übersehen fühlt. Auch Barbara Baumgartner macht sich für eine aktive, verantwortungsbewusste Elternrolle stark: „In Patchworkfamilien dauert es seine Zeit, bis alle ihren Platz gefunden haben. In diesen Phasen der Unsicherheit ist es wichtig, dass beide leiblichen Eltern auch wirklich Alltagseltern bleiben, die keine Kämpfe auf dem Rücken der Kinder ausfechten, sich nicht nur für die Bespaßung an ausgewählten Wochenenden interessieren, sondern Zeit für alle Lebenslagen ihrer Kinder aufwenden.“
Gestärkt in die Zukunft?
Dann kann im Idealfall das eintreten, was glücklich macht und für die Zukunft stärkt: ein neuer, größerer Familienverband mit mehr Gesellschaft und weniger Einsamkeit. Mit Kindern, die nicht in Watte gepackt wurden, sondern wissen, dass sie auch schwierige Situationen meistern können.
Patchworkkinder erlernen häufig zentrale Kompetenzen:
- Sie müssen flexibler sein,
- sich schneller anpassen,
- sind oft selbständiger, offener, selbstbewusster, unkomplizierter,
- können mit verschiedenen Regeln umgehen,
- schätzen, wenn das Familienleben (wieder) harmonisch ist,
- wenn neue Haustiere, Geschwister und andere Bezugspersonen ihr Leben reicher machen.
Dank verständnisvoller, einfühlsamer und zugewandter Eltern kann das für Barbara Baumgartner auf alle Fälle gelingen.
RAIN BOWS Österreich
hilft Kindern in stürmischen Zeiten und hat Niederlassungen in allen Bundesländern. Seit 1991 wurden über 25.000 Kinder nach Trennung, Scheidung oder dem Tod nahestehender Personen betreut. Mehr unter: www.rainbows.at
Alexandra Maxeiner, Anke Kuhl.
Alles Familie!
Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von
Papas früherer Frau und anderen Verwandten,
Klett Kinderbuch 2018,
ISBN 978-3-95470-029-5
Jesper Juul,
Aus Stiefeltern
werden Bonuseltern.
Chancen und
Herausforderungen für
Patchwork-Familien.
BELTZ 2017,
ISBN 978-3-407-22941-0.
Autor:in:
Zur Person Mag.a Mirjam Dauber ist Lehrerin, freie Journalistin und Rezensentin. https://blaetterwald.at/ Aktuelle Artikel