Die zehnjährige Leonie sieht aus, wie man sich einen Engel vorstellt. Große, blaue Augen, blonde Haare, ein strahlendes Lächeln. Bis vor kurzem ist sie ihrem Image auch gerecht geworden; ein braves Mädchen, höflich, hilfsbereit, gut in der Schule. Das war einmal.
Seit einigen Wochen erleben ihre Eltern Leonie wie verwandelt. Die süßen Pony-Pullover müssen dem bauchfreien Top weichen. Die Schule ist fad, die Mama ist doof. Ihr Zimmer versinkt im Chaos, geduscht wird nur noch auf Zuruf der Eltern und dann nur widerwillig. Papa ist komplett abgemeldet und wird vor dem fest verschlossenen Badezimmer stehen gelassen. Die Eltern sind konsterniert: Wohin ist unser kleiner Engel verschwunden? Ist es nicht ein bisschen früh für die Pubertät?
Entwickeln sich Kinder heutzutage schneller?
Leonies Eltern sind nicht allein: Der Eindruck, dass Kinder heutzutage früher in den geschlechtlichen Reifeprozess eintreten als je zuvor, ist richtig. Das Phänomen dieser Entwicklungsbeschleunigung, der so genannten Akzeleration, ist schon lange bekannt und wird ständig erforscht. Seit dem Zeitalter der Industrialisierung kommen Kinder immer früher in die Pubertät. So haben Mädchen in Mitteleuropa heute ihre erste Menstruation über zwei Jahre früher als noch vor hundert Jahren. Eine Studie des deutschen Sexualwissenschaftlers Norbert Kluge spricht davon, dass der Trend seit über 140 Jahren anhält. Lag das Durchschnittsalter der ersten Periode in Deutschland im Jahr 1860 noch bei 16,6 Jahren, dürften Mädchen 2010 im Schnitt schon zwischen dem zehnten und elften Lebensjahr mit der ersten Regelblutung rechnen. Ein ähnlicher Trend gilt auch für die Buben, die 1994 durchschnittlich mit 12,6 Jahren ihren ersten Samenerguss hatten. Und die Jungs holen auf: Galt lange Jahre die eiserne Regel, dass Mädchen etwa zwei Jahre früher in die Pubertät kommen, liegen heute nur noch wenige Monate zwischen der Geschlechtsreife von Buben und Mädchen.
Ist das schon die Pubertät?
Was die Eltern von Leonie erleben, muss aber mit Pubertät noch nichts zu tun haben. Denn vor dem Beginn der eigentlichen Pubertät, körperlich durch die erste Regelblutung oder den ersten Samenerguss markiert, machen Kinder eine weniger bekannte, aber mindestens so schwierige Entwicklungsphase durch: die Vorpubertät oder Frühadoleszenz. Rein medizinisch liegt diese Phase zwischen dem ersten Auftreten von sekundären Geschlechtsmerkmalen wie Schambehaarung oder der Ausbildung weiblicher Brüste und dem ersten Funktionieren der Geschlechtsteile zu Beginn der Pubertät. Radikal entwickelt sich auch das Gehirn weiter. Der Wortschatz springt sprunghaft an, komplexe sprachliche Strukturen werden gemeistert. Formal-abstraktes Denken, Logik, Symbolik und das Bilden von Hypothesen fallen leichter. Das Gehirn meistert auch Konzepte wie Pläne für die Zukunft, Zielstrebigkeit und das Organisieren komplexer Vorgänge.
Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Sie werden möglicherweise nicht viel von dieser kognitiven Revolution merken. Etwas offensichtlicher sind nämlich die weniger angenehmen Nebenwirkungen der Vorpubertät: Die Kinder werden bockig, aufsässig, unordentlich, wortkarg und frech. Nicht selten kommt dazu noch ein Absacken der Schulleistungen, trotz der eigentlich besseren Gehirnleistung. Die Eltern haben plötzlich nichts mehr zu melden, die Kinder ziehen sich zurück, neigen zur Geheimniskrämerei. Extreme Stimmungsschwankungen, Unfähigkeit sich zu irgendetwas zu motivieren und das bei einer ständigen inneren Unruhe sind betreffen vor allem Mädchen. Die Buben erfahren eine unglaubliche Kraftsteigerung, die sich oft auch in Protzerei, Aggressivität und einer unbändigen Lust auf Unfug äußert. Gefühle zu zeigen oder gar in Worten auszudrücken fällt den vorpubertierenden Kindern unglaublich schwer.
Wann hören die ewigen Diskussionen auf?
Was noch in der Volksschulzeit eine Selbstverständlichkeit war, ist jetzt Gegenstand dauernder, scheinbar sinnloser Diskussionen. Nein, ein Piercing ist für eine 11-Jährige nicht okay. Wie schaut dein Zimmer schon wieder aus? Komm raus aus dem Bad! Kannst du auch mal wieder den Tisch decken? Du gehörst zum Friseur! Wann hast du das letzte Mal geduscht? Wir hatten doch ausgemacht, dass du um 19 Uhr zu Hause bist. Okay, ich glaube, du hast jetzt genug Ballerspiele gespielt für heute. Bloß weil das dein bester Freund sagt, muss es noch lange nicht stimmen!
Was geht in den Köpfen dieser Kinder vor? Gar nicht so leicht herauszufinden, wortkarg wie sie sind. Wolfgang Kasper drückt es so aus: „Verwirrung, eine unspezifische Sehnsucht, Unruhe, die Angst, das Erwachsenwerden nicht zu schaffen, nicht zu verkraften, was da im Körper passiert“. Die Vorpubertät ist eine Zeit des Suchens. Es ist eine Suche nach der eigenen Identität, den eigenen Werten, der eigenen Rolle, dem eigenen Geschlecht. Es ist eine Zeit der Angst; vor der Zukunft, vor der Sexualität, vor dem Versagen. Und es ist eine Zeit des Abschieds und der Revolution, in der sich die Bindung zu den Eltern zu lösen beginnt.
Wie entwickeln sich Geschlechterrollen?
Gerade diese Lösung der Familienbande macht vielen Eltern zu schaffen, ist aber für die Kinder besonders wichtig, so Wolfgang Kasper: „Die Eltern werden ent-idealisiert. Es findet eine psychische Reifung statt, mit der sich das Kind stärker von den Eltern getrennt fühlt“. Die Kinder suchen sich neue Bindungen außerhalb der Familie. Es kann der Fußballtrainer sein, ein Lehrer oder auch ein nicht erreichbarer Popstar, der als neues Objekt der Idealisierung herhält. Die Eltern hingegen werden oft regelrecht bekämpft, besonders der gegengeschlechtliche Elternteil. „Die Mutter wird für Buben zu einem Angriffsziel. Frauen werden sehr entwertend und demütigend behandelt. Mütter sind natürlich sehr getroffen, wenn der Sohn plötzlich „du Hure“ zu ihr sagt. Das kommt in den besten Familien vor“, erzählt Wolfgang Kasper. Umgekehrt nimmt der Vater für die Buben bzw. die Mutter für die Mädchen eine ganz besondere Position ein: Sie helfen bei der Suche nach der zukünftigen Rolle als Mann oder Frau. So abgemeldet die Eltern oft sind in dieser Zeit; als Sohn mit dem Papa bergsteigen gehen oder als Tochter mit der Mama shoppen, das kann das Größte sein. Irritierend an dieser langsamen Auflösung der Familienbande ist, wie wenig stabil sie verläuft. An einem Tag schließt sich ein Kind in sein Zimmer ein und reagiert auf keinen Annäherungsversuch. Am nächsten hängt es der Mama am Rockzipfel und würde am liebsten in sie hinein kriechen. Dieses hin und her zwischen Kind und Teenager macht die Vorpubertät nicht leichter – weder für Eltern noch für die Kinder.
Diese Abnabelung macht besonders jenen Eltern zu schaffen, die jene intime Nähe der Kindheit besonders genossen haben, die immer schon Mühe hatten, ihren kleinen Schatz auch mal alleine gehen zu lassen. Der Tipp vom Psychotherapeuten: „Ich rate Eltern, die Angst um die Kinder auszuhalten, und zwar in einem gerüttelt Maß. Zu viel Angst errichtet einen Kerker für die Kinder, für den sie sich rächen werden. Zu wenig Angst führt zu verwahrlosten Kindern. Fürchtet euch, aber lasst es euch nicht anmerken!“
Welche Strategien können Eltern verfolgen?
Eine ganz besondere Rolle in der Vorpubertät spielen die Freundinnen und Freunde. Und zwar nur entweder Freundinnen oder Freunde. War es noch im Volksschulalter für viele Kinder absolut okay, wenn Buben und Mädchen gemeinsam spielen, geht so etwas jetzt gar nicht mehr. „Die Suche nach der sexuellen Identität findet in der gleichgeschlechtlichen Gruppe statt. Die Mädchen, die vorher vielleicht versucht haben, bei den Buben mitzuspielen, suchen sich jetzt Mädchen. Und finden es total super, Lippenstifte auszutauschen“, so Wolfgang Kasper. Die eigene Clique hat nun mehr Einfluss als Mama und Papa, meist zum Ärger der Eltern. Auch hier werden sie herausgefordert; was toleriere ich, wo verläuft die Grenze und wie kann ich mich auch mal gegen den wohl gemeinten Rat der besten Freundin durchsetzen? Einig sind sich die Pädagogen jedenfalls darin, was nicht funktioniert: Auf autoritäre Maßnahmen, Schreien und Strafen reagieren die Vor-Teenager besonders empfindlich. Die Gefahr ist sehr groß, dass der Dialog ganz abgebrochen wird, dass aus dem Miteinander ein Gegeneinander wird. Ganz kontraproduktiv ist es auch, die Freunde des Kindes schlecht zu machen. Es wird sich nämlich garantiert nicht auf Ihre Seite schlagen. Wenn Sie im Gegenteil ehrliches Interesse an den Freunden zeigen und vielleicht sogar den Kontakt zu deren Eltern suchen, kann das einiges erleichtern. Es ist jedenfalls immer die bessere Strategie, auf das Kind zuzugehen, statt abzuwarten und die Augen für irgendwelche Alarmsignale offen zu halten. Dr. Werner Stangl, Assistenzprofessor des Instituts für Pädagogik und Psychologie der Johannes Kepler Universität Linz, drückt es so aus: „Alarmsignale sind immer viel zu spät – die einzige Möglichkeit ist es, nie die Dialogbasis zu verlieren, aber das funktioniert nur, wenn die Beziehung vorher in Ordnung war – jetzt in der Pubertät plötzlich den Kumpel oder die Vertraute spielen funktioniert nicht. Fehlentwicklungen haben meist ihre Wurzeln in der Kindheit“. Oder in den Worten von Wolfgang Kasper: „Es geht darum, Gesetze aufzustellen und aufrecht zu erhalten, wissend, dass sie gebrochen werden müssen und trotzdem immer in der Kommunikation zu bleiben. Die große Aufgabe ist, die Beziehung nicht abzubrechen, sondern sich beweglich wie eine Schlange an die neuen Bedingungen anzupassen“.
INFORMATIONEN:
- Vorpubertät
Findet meistens zwischen zehn und 14 Jahren statt, bei Mädchen etwas früher als bei Jungen.
Sie wird als Phase zwischen dem ersten Auftreten von sekundären Geschlechtsmerkmalen und dem ersten Funktionieren der Genitalien definiert. - Früh-Adoleszenz
Sozusagen das Gegenstück der Vorpubertät aus psychologischer Sicht. Als Adoleszenz wird die Entwicklung des Menschen von der Kindheit hin zum Erwachsensein bezeichnet.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert dafür den Zeitraum zwischen zehn und 20 Jahren. - Berühmte Vorpubertierende
Die verwirrende, wilde und instabile Phase der Vorpubertät hat auch die Jugendliteratur mehr als nur einmal inspiriert. Sowohl der junge Harry Potter, als auch die „Wilden Kerle“ oder Pippi Langstrumpf gehören in diese Kategorie.
Literaturtipp:
Wer in die Tiefe gehen möchte, dem sei das zum Standard gewordene Fachbuch „Adoleszenz“ von Peter Blos, erschienen im Verlag Klett-Kotta, empfohlen.
Autor:in:
Zur Person Mag. Claudia Ohnesorg-Csik studierte Handelswissenschaften an der WU Wien. Ist Mutter von zwei Töchtern. Sie ist für die Online Redaktion zuständig und verantwortet die Social Media Präsenz. Aktuelle…