Auf den ersten Schultag wird bereits im letzten Kindergartenjahr hingefiebert. Schließlich ist dieser besondere Tag der Kleinen auch ein Meilenstein für Eltern und Großeltern.
„Na, freut sich dein Kind denn schon auf die erste Klasse?“, säuseln freundliche Nachbarn oder Kollegen. Wie niederschmetternd, wenn der Sohn oder die Tochter als „nicht schulreif“ eingestuft und in die Vorschulklasse versetzt wird. Ganz gleich, ob das bereits bei der Schuleinschreibung oder nach den ersten Schulwochen geschieht.
Manuela Kainer (Vorschullehrerin in Wien): „Jedes Kind ist anders, manche Kinder brauchen für die Anforderungen der Schule etwas länger als andere. Das ist kein Versagen. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und müssen unseren Kindern das Rüstzeug mitgeben, um in dieser bestehen zu können.“
Die Vorschulklasse als Wegbereiterin?
Wenn Manuela Kainer von ihrem Beruf spricht, tut sie das mit viel Achtung und Wertschätzung gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern. Sie ist überzeugt, dass die Vorschule eine gute Wegbereiterin ist und einen sanften übergang vom Kindergarten in die Schulzeit darstellt.
- Die Kinderanzahl ist kleiner, die räumlichen Gegebenheiten dafür umso ansprechender.
- In der Vorschulklasse werden Kinder individuell gefördert und zum Lernen motiviert.
- Viele Kinder haben Schwierigkeiten im graphomotorischen Bereich, können Stift und Pinsel nicht richtig führen oder nicht auf einer Linie schreiben.
- Manche haben Schwierigkeiten damit, sich an Verpflichtungen zu gewöhnen, die es im Kindergarten kaum gab.
- Auch die Simultanerfassung, also die Benennung einer Anzahl von gezeigten Gegenständen, ohne sie abzählen zu müssen, überfordert einige Kinder noch.
„Wir arbeiten viel an der körperlichen, visuellen und akustischen Wahrnehmung. Auch die Konzentration und die Aufmerksamkeit werden gefördert“, so Manuela Kainer. „Wenn ein Kind nicht rückwärts gehen kann, wie soll es dann rückwärts zählen können?“, erläutert sie. Und tatsächlich geht es bei manchen Kindern auch darum, sie an den pünktlichen und regelmäßigen Schulbesuch zu gewöhnen.
Wege aus der Frustrationsfalle?
Trotz allem fühlen sich viele Eltern gekränkt, wenn die Schulleitung ihrem Kind den Besuch der Vorschulklasse empfiehlt. Die Eltern müssen die Annahme dieses Angebots mit einer schriftlichen Einverständniserklärung bestätigen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, eine neuerliche Testung im September zu beantragen, wenn die Ergebnisse bei der Schuleinschreibung nicht eindeutig waren.
In Österreich gibt es außerdem die flexible Schuleingangsphase bzw. die Möglichkeit, den Unterrichtsstoff der ersten Schulstufe in zwei Jahren zu erlernen. Für nicht schulreife Kinder, die integrativ im Klassenverband der ersten Klasse geführt werden, kann dies aber zu einer Frustrationsfalle werden.
„Es ist, als hättest du ein Loch im Keller deines Hauses, würdest aber trotzdem im ersten Stock weiterbauen“, findet Manuela Kainer. In vielen Klassen fehlt die Zeit, um eigens auf die jeweiligen Kinder zugeschnittene Angebote und Fördermaßnahmen zu entwickeln. Schülerinnen und Schüler, die aufgrund bestimmter Defizite spezielle Förderung bräuchten, müssen daher oft am herkömmlichen Unterricht teilnehmen – in abgeschwächter Form. Sie erleben Misserfolge zu einer Zeit, in der sie sich eigentlich auf das Lernen freuen sollten.
„Versagensängste sind bei jungen Kindern besonders schlimm. Sie erleben Enttäuschungen nicht als ,Es hat nicht gereicht sondern – viel dramatischer – als ,Ich habe nicht gereicht‘“, erzählt die Vorschullehrerin. Die Pädagogin sieht Handlungsbedarf, und zwar bevor Misserfolge, Leistungseinbrüche und die Angst, nicht der Norm zu entsprechen, kommen. „Idealerweise starten wir in der Vorschulklasse gemeinsam in einem positiven Fluss, in dem den Schülerinnen und Schülern von Beginn an seelischer Kummer erspart bleibt. Wir arbeiten sehr strukturiert und geben den Kindern durch viele Wiederholungen und Rituale Halt, der ihnen guttut“, so Manuela Kainer.
Welche sind die Vorteile der Vorschule?
Das Jahr in der Vorschulklasse wird auf die Dauer der Schulpflicht angerechnet.
In der Vorschulklasse gibt es keine Benotung, dafür aber eine Vielfalt an Aufgabenbereichen. Schwerpunkte liegen auf der sozio-emotionalen Entwicklung, den Bewegungserfahrungen sowie auf der Förderung der sprachlichen Fähigkeiten und der mathematischen Früherziehung. Aber auch die rhythmischmusikalische Erziehung, das Singen und Musizieren, die Bildnerische Erziehung und der Werkunterricht fördern und fordern die jungen Schülerinnen und Schüler.
Fast so wie bei den Erstklässlerinnen und Erstklässlern also. Nur mit weniger Druck, mehr Individualität und offeneren Lernmöglichkeiten. Ein „Unterrichtsfach“ findet sich aber auf dem Stundenplan der ersten Schulstufe nicht: Spiel. Das ist in der Vorschulklasse als Verbindliche übung mindestens ebenso wichtig wie die Vorübungen zum Rechnen und Schreiben. Im Lehrplan der Vorschule wird das Spiel als Möglichkeit gesehen, alle Bereiche der Entwicklung zu fördern. Es geht dabei darum, die Spontaneität, das schöpferische Tun und die Freude am eigenen Körper zu unterstützen. Kinder lernen im Spiel, indem sie auf ihre Mitmenschen zugehen, kommunizieren, wahrnehmen und entdecken. Auch die Motivation und Lernbereitschaft wird spielerisch gefördert, denn sie soll natürlich erhalten bleiben.
Infos
Autor:in:
Zur Person Marion Brugger ist ausgebildete Kindergartenpädagogin, Horterzieherin und Volksschullehrerin. Außerdem ist sie Verfasserin eines Buches zum Thema Begabungsförderung. Sie hat eine Tochter und unterrichtet an einer Volksschule in Wien.…