Bettnässen ist für die betroffenen Kinder und deren Eltern eine Belastung. Viele Familien fühlen sich mit dem Problem isoliert und allein gelassen, dabei ist es alles andere als selten. Günter Primus, Urologe der Grazer Universitätsklinik und Experte für Bettnässen (Enuresis), nennt folgende Zahlen: „Wir haben ständig zwischen 50.000 und 60.000 betroffene Kinder in Österreich. Im fünften Lebensjahr sind es rund 10 % aller Kinder“. In jeder Schulklasse sitzen also zwei bis drei Bettnässer. Darüber gesprochen wird dennoch kaum.
Wer trägt die Schuld?
„Viele Eltern geben sich selbst und möglichen Erziehungsfehlern die Schuld. Es ist aber niemand schuld“, erklärt die Obfrau der Selbsthilfeorganisation „Club Mondkind“ Elisabeth Leeb. Bettnässen ist eine körperliche Krankheit, die behandelt werden kann. Das gilt insbesondere für die primäre Enuresis. Davon wird gesprochen, wenn Kinder jenseits des 5. Lebensjahres noch in der Nacht einnässen, also nie richtig trocken werden. Heute weiß man, dass diese Form des Bettnässens mit einer Entwicklungsverzögerung zusammenhängt. Bei den betroffenen Kindern ist das „antidiuretische Hormon (ADH)“, das für die Steuerung der Urinmenge verantwortlich ist, nicht ausreichend vorhanden.
Etwas anders verhält sich die Situation bei der sekundären Enuresis. Von ihr spricht man, wenn Kinder, die bereits trocken waren, wieder mit dem Einnässen beginnen. Hier spielen psychische Faktoren die Hauptrolle. „Oft handelt es sich um Belastungen aufgrund von Veränderungen: ein neues Geschwister, ein Umzug, ein Todesfall, ein Unfall, der Eintritt in Kindergarten oder Schule“, erzählt der Psychologe Harald Hornich aus seiner Praxis. Selbstverständlich gilt es auch hier mögliche körperliche Ursachen abzuklären. In den meisten Fällen ist jedoch das Gespräch in der Familie das beste Heilmittel, am besten mit der Hilfe eines Psychologen oder Therapeuten.
Doch auch die körperlich bedingte primäre Enuresis bleibt nicht ohne psychische Folgen, wie Elisabeth Leeb weiß: „Die Eltern warten zu lange. Da spielen das Nichtwissen, die Scham und das Tabu des Bettnässens hinein“. Schnelles Handeln ist also gefragt. Das heißt, wenn das Kind mit fünf Jahren regelmäßig und schwer einnässt, ist ein Facharzt zu konsultieren (eine Liste findet sich unter www.clubmondkind.at).
Wie ist die genaue Diagnose?
Bei der Untersuchung kann der Arzt ausschließen, dass das Bettnässen ein Symptom einer schwer anderen Krankheit ist. Dann werden die Eltern gebeten, ein Miktionsprotokoll zu führen. Darauf wird aufgezeichnet, wie viel Flüssigkeit das Kind zu sich nimmt und von sich gibt. Aus diesem Protokoll lassen sich dann wichtige Schlüsse ziehen, unter anderem auf die Kapazität der Blase. Mit einer genauen Diagnose kann nun diskutiert werden, welche Therapie am ehesten helfen könnte. An erste Stelle steht in fast jedem Programm das Führen eines Kalenders, in dem das Kind selbst die trockenen Nächte mit einer Sonne auszeichnen darf, während über den feuchten Nächten die Regenwolke sitzt. Das motiviert natürlich nur, wenn die trockenen Nächte in der Mehrzahl sind. Das Kind wird eingebunden in das Trockentraining und hat die Chance auf Erfolgserlebnisse.
Eine andere Art der Motivation sind Apparaturen wie die Klingelhose. Sie gibt einen lauten Warnton von sich, sobald im Schlaf die ersten Tropfen kommen. Mit der Zeit soll das Kind so lernen von selbst aufzuwachen, wenn die Blase voll ist. Das geht nur, wenn die Therapie von der ganzen Familie mindestens zwei Wochen, eher einen Monat durchgezogen wird. Die Erfolgsaussichten werden je nach Studie sehr unterschiedlich bewertet. Medikamentös wird Bettnässen mit dem Wirkstoff Desmopressin behandelt, einer synthetischen Version des ADH, meist per Nasenspray verabreicht. Damit die Therapie langfristig wirkt, muss das Nasenspray über mehrere Monate genommen und die Dosis nur langsam reduziert werden. Bis zu 80 Prozent der Kinder sprechen auf das Medikament an, doch nur rund ein Fünftel bleibt danach endgültig trocken. Auch die möglichen Nebenwirkungen sind nicht unerheblich: übelkeit, Erbrechen und Nasenbluten kommen laut Beipackzettel „gelegentlich“ vor. Dennoch ist Desmopressin für viele das Mittel der Wahl, weil es schnell wirkt und der Familie ein Stück des Drucks nimmt. Begleitend zu solchen Therapien kann das Kind auf Unterhöschen zurückgreifen, welche die Flüssigkeit zurückhalten und dem Pyjama getragen werden können. Die wenigsten Kinder wollen in diesem Alter noch Windeln tragen, aber Höschen wie zum Beispiel „Huggies Drynites“ akzeptieren sie. Das erspart viele Waschgänge und vor allem das schreckliche Erwachen im nassen Bett. Ein Ersatz für eine Behandlung ist das Höschen aber nicht.
Welche sind die Alternativen?
Neben der Schulmedizin gewinnen in den letzten Jahre alternative Methoden an Popularität. Gerade Akupunktur und Akupressur scheinen ersten Studien zufolge beim Bettnässen zu helfen. In den Internetforen der Betroffenen liest man auch von erfolgreichen Therapien mit Bachblüten, Kinesiologie, Homöopathie oder Osteopathie – sie halten sich jedoch die Waage mit Geschichten von Misserfolgen. Bewiesen und erforscht ist auf diesem Gebiet wenig. Und das reiche Angebot an Heilsversprechungen führt manchmal zu einer Odyssee, die alle nur zusätzlich belastet. So berichtet die Mutter von Clemens (8): „Wir haben einen langen Leidensweg – Kinderarzt, praktischer Arzt, Akupunktur, TCM, Kinesiologie – hinter uns, mit wechselnden Erfolgen“. Den Durchbruch brachte zuletzt doch die Enuresis-Fachärztin.
Das etwas andere Ferienlager?
Hoffnung gibt es in jedem Fall: „Pro Jahr werden ca. 15 Prozent der Bettnässer spontan trocken, ohne dass man irgendetwas macht“, erklärt Günter Primus. Fördern kann man diese Spontanheilung mit einer entspannten, positiven Umgebung. Da das zu Hause nicht immer möglich ist, hat Primus die Enuresis-Camps ins Leben gerufen. Die Kinder verbringen ein ganz normales Ferienlager in der Steiermark. Mit dem feinen Unterschied, dass alle dasselbe kleine Problem haben. Der frappierende Effekt: Etwa ein Drittel der Kinder erlebt am Ende des Camps ein glückliches Erwachen – im trockenen Bett.
„Medikamente schlagen die Brücke“
Interview mit Dr. Univ.-Doz. Dr. Günter Primus, Universitätsklinik Graz:
NEW MOM: Wie können Eltern den Unterschied erkennen zwischen einem Kind, das etwas länger braucht, um trocken zu werden, und der Krankheit Bettnässen?
Primus: Vor dem zweiten Lebensjahr sollte man überhaupt kein Trockentraining machen, weil die Kinder erst dann ein Blasengefühl entwickelt. Wenn das Kind ab dem 5. Lebensjahr in der Nacht noch regelmäßig einnässt, sollte es behandelt werden. Wir beginnen zu diesem Zeitpunkt, damit das Kind vor der Einschulung trocken wird.
NEW MOM: Manche Eltern haben großen Respekt vor einer urologischen Untersuchung.
Primus: Die Untersuchung ist vollkommen schmerzlos. Es wird kein Blut abgenommen, es werden keine Katheter gesteckt. Die erste Untersuchung besteht aus einem Gespräch, einer körperlichen Untersuchung, einer Harnuntersuchung und der Diskussion des Miktionsprotokolls.
NEW MOM: Die Therapie mit der Klingelhose wird von vielen Eltern abgelehnt, weil doch recht drastisch erscheint. Ist dieser Ansatz umstritten?
Primus: Die Klingelhose ist ganz und gar nicht umstritten. In Deutschland wird sie noch wesentlich häufiger eingesetzt als bei uns, und das mit großem Erfolg. Die Kinder bleiben auch zu einem hohen Prozentsatz trocken. Wenn allerdings nach einem Monat kein Erfolg zu verzeichnen ist, sollte man damit aufhören.
NEW MOM: Bei der medikamentösen Therapie wird das fehlende Hormon durch ein synthetisches ersetzt. Besteht da nicht die Gefahr, dass man nur trocken bleibt, solange man das Medikament nimmt?
Primus: Mit dem Medikament schlagen wir die Brücke, bis sich der Hormonhaushalt reguliert hat. Im Durchschnitt dauert die Therapie 26 Wochen. Während dieser Zeit lassen wir das Medikament langsam ausschleichen, bis es ganz abgesetzt wird. Wenn man das Medikament abrupt absetzt, weil das Kind trocken ist, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder zum Einnässen.
Autor:in:
Zur Person Mag. Claudia Ohnesorg-Csik studierte Handelswissenschaften an der WU Wien. Ist Mutter von zwei Töchtern. Sie ist für die Online Redaktion zuständig und verantwortet die Social Media Präsenz. Aktuelle…